Welker Salat und ein Scheidemittel für Borniertheit

Mit dem Sudelbuch ist es, wie mit meinem Tante-Emma-Laden um die Ecke. Täglich frische Waren, so lautet das Versprechen, doch die nüchterne Wahrheit sieht anders aus. Da ist schon mal ein Brötchen von gestern unter die frischen von heute gerutscht, da lässt das Verfallsdatum der Milch Böses ahnen, und da ist der Salatkopf nicht deshalb so klein, weil er öko ist, sondern weil Tante Emma die äußeren welken Blätter abgemacht hat.

Und nicht viel anders ist es mit dem Sudelbuch. Es gibt einfach Tage, da muss ich so viel schön schreiben, dass ich keine tagesfrische Sudelei mehr hinbekomme. Auch heute fällt mir nichts Rechtes oder Linkes ein.

Natürlich könnte ich jetzt über die Gegner der Rechtschreibreform herziehen, die ohne sich jemals wirklich mit den neuen Regeln beschäftigt zu haben, lautstark alles Neue ablehnen, weil es neu ist. Doch die Borniertheit dieser Kulturhüter ist schon so schlimm, dass es eines Wielands bedürfte, um über dieses abderitische Treiben halbwegs amüsant zu lästern.

Bald kann man vielleicht Folgendes schreiben: Im ganzen deutschen Sprachraum herrscht die neue Rechtschreibung. Im ganzen? Nein, ein kleiner, tapferer, friesischer Stamm leistet den Reformkräften erbitterten Widerstand und möchte sich nicht von Dudens krausem Regelwerk trennen. Ausgerüstet mit dem Zaubertrank des Volksentscheids führen sie sich selbst fleißig an der Nase herum.

Ich hätte nie gedacht, dass man ein so einfaches Scheidemittel für Borniertheit auffinden könnte. In so vielen Fragen des täglichen Lebens weiß man oft nicht, welche Partei die verblödetere ist. Als einfacher Steuerzahler wusste ich bei der so vollmundig angekündigten so genannten ›großen‹ Steuerreform nie, welche Seite mir denn nun mehr Geld aus der Tasche ziehen wollte. Bei der Rechtschreibreform, die wahrscheinlich als einziges gelungenes Reformwerk der Ära Kohl in die Geschichte eingehen wird, trennt sich dermaßen offensichtlich die Spreu vom Weizen, dass ich mich selbst dann schämen würde, gegen die Reform zu sein, wenn ich wirklich stichhaltige und vernünftige Gründe dagegen einzuwenden hätte. Ich käme mir ungefähr so blöd vor, als wenn ich an UFOs, Götter, Geister und Gelehrte oder sonstigen esoterischen Schnickschnack glauben würde.

Die Reformunfähigkeit der Deutschen hat eine lange Tradition. Ich erinnere mich noch, dass ganz Deutschland wie ein Mann aufstand, als man die Kollektivschule einführen wollte. Das war als ich gerade Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Und schon damals befehdeten alle germanischen Abderiten die Mengenlehre ebenso heftig, wie sie sich heute über den Delfin aufregen. So wie damals Demokrit unter seinen Abderiten litt, so leide ich unter meinen lieben Mitbürgern. Denn ich habe immer gerne in Mengen gelernt. In den 70er Jahren hat dann die Sesamstraße den Deutschen die Mengenlehre so ganz stickum doch noch näher gebracht. »Eins von den Dingen ist nicht wie die anderen…« sangen Ernie und Bert damals quäkend und eingängig. Und wenn erst einmal die Bildzeitung die neue Rechtschreibung übernimmt, wird auch das Geheule der Bildungsbürger endlich aufhören und nur noch als Reminiszenz im GenerationenProjekt unter dem Datum 1998 weiterleben. – Solingen 18. Juli 1998