Geheimsprachen, die Mutter aller Spiele, serbische Spucke und verirrte Hooligans

Nach meinem gestrigen Ausflug in die Philosophie der Zeit komme ich heute zurück in die harte Realität. Es ist Fußballweltmeisterschaft, die Nationen der Welt messen sich in friedlicher Kickerei, betreiben Völkerverständigung auf höchstem spielerischem Niveau. Es war wieder einmal herrlich, sich am Wochenende mit Chips und Bier auf der Couch zu sudeln und all diese sportlichen und menschlichen Höhepunkte mitzuerleben.

Vorgestern fand die Mutter aller Spiele statt: das Vorgruppenspiel der USA gegen den Iran. Die Iraner haben den großen Satan besiegt und Bill Clinton ist immer noch Präsident. Daran erkennt man, welchen Stellenwert Fußball in den USA hat. Kaum auszudenken, was passiert wäre, wenn die Iraner ein Baseballspiel gegen die USA gewonnen hätten!

Nicht nur der Iran konnte gegen einen großen Gegner triumphieren. Auch dem kleinen Paraguay gelang ein schmerzhafter Fußtritt gegen das Schienbein eines vermeintlich Stärkeren. Sie besiegten die Spanier mit Null zu Null. Ermöglicht wurde dieser Sieg nicht durch ihr gutes Spiel, sondern durch ihre Sprache. Denn auf dem Spielfeld verständigten sich die spanisch sprechenden Paraguayos scheinbar in einer Geheimsprache, um ihre taktischen Finessen vor den Spaniern geheim zu halten. Kulturpolitisch brisant ist dieser Coup, da es sich bei der ›Geheimsprache‹ um Guarani, einen indianischen Dialekt, handelte. Mit Hilfe ihrer Ursprache nahmen die fußballspielenden Paraguayos späte Rache an den spanischen Konquistadoren, die vor rund einem halben Jahrtausend in Südamerika einfielen und ihre Kultur zerstörten.

Ganz Jugoslawien oder das, was davon noch übrig geblieben ist, schwelgte 80 Minuten lang in dem Hochgefühl, Deutschland besiegt zu haben. Dann versetzte Oliver Bierhoff durch seinen Kopfball in der 80. Minute den Südslawen eine kalte Dusche und sicherte den Deutschen ein glückliches Remis. Ob es nach dem Spiel zum traditionellen Trikottausch kam, wissen wir armen Fernsehzuschauer nicht, weil die FIFA diese sportliche Geste in die Katakomben der Stadien verbannt hat. Nackte männliche Oberkörper, so die Begründung der FIFA sind den Zuschauern in moslemischen Staaten nicht zuzumuten. Subversiv wie die Franzosen aber nunmal sind, fangen die Kameramänner während der Spiele im Publikum so ziemlich jede leicht beschürzte Schönheit ein, um die Zensur der Mullahs auf Trab zu halten. Im Iran werden die Spiele um wenige Minuten zeitversetzt ›live‹ übertragen, damit die Zensoren Zeit gewinnen, die nackten Provokationen der verkommenen westlichen Welt herauszuschneiden.

Aber zurück zum Jugoslawien-Spiel und den Traditionen des Fußballs. Scheinbar wird es mittlerweile gute Tradition, die deutschen Spieler während einer Fußballweltmeisterschaft anzuspucken. So hat das holländische Lama Rijkaard nun in Mihajlovic einen würdigen Nachfolger gefunden. Während Rijkaard 1990 Völler versteckt von hinten anrotzte, spukte Mihajlovic Jeremies öffentlich mitten ins Gesicht. Immerhin: Mihajlovic hat es Mann gegen Mann und Auge in Auge von vorne getan, was Rijkaard sich nur von hinten traute.

Jedoch auch die Deutschen scheuen die Weltöffentlichkeit nicht mehr. So haben deutsche Hooligans und Neonazis, die seit Jahren in Deutschland Ausländer totschlagen dürfen, dies nun auch in Frankreich versucht. Dort sind die Ausländer aber zumeist Inländer und zu allem Unglück schaut auch noch die ganze Welt zu, weshalb der Vorfall dem Bundeskanzler auch außerordentlich peinlich ist. – Solingen, 23. Juni 1998