Kettensägenmassaker?

Ich saß heute morgen am Schreibtisch und dachte, da hörte ich doch plötzlich von draußen das grauenvolle Geräusch einer Kettensäge. Instinktiv griff ich nach den Handschellen, mit denen ich mich des Öfteren an diesem oder jenem Baum angekettet hatte, um zu verhindern, dass er gefällt wurde. Ich öffnete das Fenster und versuchte den Tatort zu lokalisieren. Es schien von drüben vom Rathaus zu kommen, vor dem ein paar schöne große Bäume stehen. Ich bekam natürlich gleich hektischen Hautausschlag und überlegte, was zu tun sei. Ich besann mich drei Sekunden und legte die Handschellen dann wieder zurück in die Schublade. Dafür war es nun zu spät. Außerdem war es draußen kalt und überhaupt: warum soll ich da ganz alleine meinen Körper in den Kampf schmeißen, wie Pasolini das mal ausdrückte?

Die Säge wollte und wollte nicht verstummen, aber alle größeren Bäume, deren Wipfel ich von hier aus sehen konnte, standen noch. Das beruhigte mich zunächst. Wahrscheinlich schützte das Grünamt wieder mal die gefährdeten Autofahrer vor tiefhängenden, totbringenden Ästen. Aber die Säge sägte weiter, es schien ein richtiges Kettensägenmassaker zu sein. Nur an wem oder an was?

Die Neugier siegte. Ich zog meinen Mantel an und ging hinaus. Auf der Straße hörte sich das Geräusch aber plötzlich ganz anders an. Es klang nun wie mein frisiertes Mofa aus den siebziger Jahren. Man konnte richtig hören, wie da irgendein A*** immer wieder am Gaszug drehte, um den Motor aufheulen zu lassen. Ich wollte gerade umkehren, als mir auffiel, dass das Mofa dieses asozialen Idioten überhaupt nicht zu fahren schien. Der Krach kam immer von der gleichen Stelle. Nun geh’ ich aber nachsehen, sagte ich mir und marschierte weiter, bog um die Ecke und staunte.

Da stand ein Marsmensch in der orangefarbenen Kleidung des Grünamts mit Ohrenschützern und Plastikbrille vor dem Rathaus. Auf dem Rücken trug er ein unförmiges Gerät und in der Hand hielt er einen langen Rüssel, mit dem er das Laub wegpustete. Das Männeken popelte mit dem Rüssel in allen Beeten, hinter jeder Baumwurzel, hinter den grauen Kästen der Telekom, hinter den abgrundtief hässlichen Abfallsammelbehältern und pustete riesige Laubwolken in den Rinnstein. Die Straße runter sah ich eine Kehrmaschine, die zu uns hinauf ächzte und dabei das ganze Laub vom Rinnstein aus einkehrte und aufsaugte. Der Laubpuster auf dem Rücken des Marsmenschen qualmte wie ein altersschwacher Trabi und der Gestank des Geräts erinnerte mich wieder an mein gutes altes Mofa, mit dem ich zu meinen ersten erotischen Abenteuern aufbrach und die gesamte Nachbarschaft tief in der Nacht aus dem Bett holte.

Ich hab mich natürlich beim Grünamt erkundigt. Ein Laubpuster ersetzt drei Arbeiter mit Harke. Wenn das kein Kettensägenmassaker ist? – Solingen 27. Oktober 1998