Die Spiritualität der Sozialen Plastik

Die Zeitläufte sind denkbar ungünstig, um über Spiritualität zu reden. Kaum ein Bedürfnis des Menschen wurde wohl so oft und so dreist ausgenutzt, um die Taschen zwielichtiger Weltverbesserer aufzufüllen, wie die Spiritualität. Bereits bei oberflächlicher Recherche blickt man in die gähnenden Abgründe esoterischen Schwachsinns, der sich in den letzten Jahrzehnten in allen Schichten der Gesellschaft ausbreiten konnte. Seitdem die Menschen in der westlichen Zivilisation nicht mehr an Gott glauben, hängen sie jedem nur erdenklichen Aberglauben an.

Wenn man den Heiligenlegenden glauben will, so war eben dieser Aberglaube das Problem, mit dem das Christentum in den ersten Jahrhunderten am meisten zu kämpfen hatte. Heiden sind bekanntlich keine Gottlosen, sondern Menschen die andere Götter haben, als den einen Gott, neben dem es keinen anderen geben darf. Den Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen kann man daher einerseits als eine den Aberglauben zurückdrängende Kulturleistung, andererseits aber auch als kulturelle Katastrophe betrachten, bei der sich ein Aberglaube gegen alle anderen durchsetzte. Wie dem auch immer sei – in den Jahrhunderten nach dem Sieg der monotheistischen Religionen befriedigten diese den Wunsch des Menschen nach geistiger Teilhabe an einer höheren Einheit. Ob Glaube oder Aberglaube – Spiritualität scheint ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein.

Die Aufklärung, die Naturwissenschaften und die Industrialisierung untergruben schließlich die Glaubwürdigkeit aller Religionen und es entstand die globale Zivilisation des rationalen Technikers und des kapitalistischen Individuums, in dem sich unter neuen Vorzeichen der alte Aberglaube breit macht. Die moderne Esoterik mit ihrem in allen Weltgegenden zusammengeklaubten Synkretismus, sich darin als Kind des Imperialismus erweisend, hält dem kritischen Blick ebenso wenig stand wie germanische Zaubersprüche oder die alchimistischen Rezepturen eines Herrn Faust.

Spiritualität ist offensichtlich nur durch Aufgabe des Verstandes zu bekommen. In Krisenzeiten wie der unsrigen führt dies zu Katastrophen. Dann vermischen sich das Bedürfnis nach Spiritualität und das Gefühl der totalen Entfremdung mit tradierten Denkmustern zu einem explosiven Gemisch, das jederzeit und überall Tod und Verderben bringen kann. Der religiös verbrämte Amoklauf, den unser Sicherheitsapparat islamistischen Terror nennt, ist nicht mehr in politischen oder militärischen Kategorien zu beschreiben, sondern bloß noch mit den Begriffen der klinischen Psychatrie. Wir nennen es Terror, weil es bei uns Angst und Schrecken hervorruft und eine Todessekte vorgibt, hinter den Anschlägen zu stecken, die aber in Wirklichkeit von Kranken ausgeführt werden. Wenn wir versuchen, uns den Motiven des Attentäters zu nähern, brechen rationale Erklärungsversuche in sich zusammen. Das Selbstmordattentat ist der lauteste und gleichzeitig vergeblichste Schrei nach Spiritualität.

Wenn diejenigen Psychologen recht haben, die Selbstmordattentate auf eine narzistische Persönlichkeitsstörung zurückführen, dann sind die angeblich religiös motivierten Attentäter weder zu einer Bindung – religio im Sinne des Lateinischen religare, zurückbinden (an Gott) – noch zu Sammlung und Achtsamkeit – religio im Sinne von relegere, auflesen, achtgeben – fähig. Islamistische Todessekten sind weder an der Ciceronischen Lesart von religio noch an der des Kirchenvaters Lactantius interessiert. Sie stilisieren vielmehr ihre narzistische Persönlichkeitsstörung zum Märtyrertum und schrauben sie damit auf eine nicht mehr steigerungsfähige Stufe, deren logische Konsequenz nur noch der Tod sein kann; der Tod der Ungläubigen und der Tod des angeblichen Märtyrers.

Wann also, wenn nicht heute, ist es an der Zeit über Spiritualität zu sprechen?

Säkularisierte Spiritualität

Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger hat in einem Essay1 den Versuch unternommen, den Begriff einer ›säkularisierten Spiritualität‹ zu bestimmen. Er vertritt dabei drei Thesen:

  1. Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.

  2. Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.

  3. Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.

Mit Hilfe östlicher Meditationslehren und westlicher Philosophie bestimmt Metzinger die Spiritualität als ein epistemisches Handeln, also als eine Praxis, die auf Erkenntnis und Selbsterkenntnis gerichtet ist. Diesem Handeln muss der bedingungslose Willen zur Wahrheit zugrunde liegen: die Tugend der intellektuellen Redlichkeit. Intellektuelle Redlichkeit besitzt nur derjenige, der es ablehnt, sich in die Tasche zu lügen. Ohne intellektuelle Redlichkeit gibt es keine intellektuelle Integrität und mithin keine integre Persönlichkeit, da intellektuelle Integrität ein Sonderfall der moralischen Integrität sei. Das Streben nach intellektueller Integrität durchzieht die gesamte Philosophiegeschichte. Dabei werden immer wieder unterschiedliche Aspekte von den Philosophen hervorgehoben. Der englische Philosoph und Vordenker der Aufklärung, John Locke bezeichnet die intellektuelle Integrität als eine Pflicht des Menschen gegenüber dem Schöpfer. »Wer glaubt, ohne einen vernünftigen Grund zum Glauben zu haben, mag in seine Einbildungen verliebt sein, aber er sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam. Denn es ist die Absicht des Schöpfers, dass der Mensch die Erkenntnisfähigkeit, die ihm verliehen wurde, anwenden soll, um Irrtum und Täuschung zu vermeiden.«2 Für Kant ist intellektuelle Redlichkeit die Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein.3 Er sagt in der Metaphysik der Sitten: Der Mensch als moralisches Wesen, ist sich selbst gegenüber zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.4 Und Nietzsche sagt im Zarathustra: »Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind und will auch blind sein. Wo ich aber wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, eng, grausam, unerbittlich.«5 Aus dem angelsächsischen Raum zitiert Metzinger den Philosophen und Mathematiker, William Kingdon Clifford, der die intellektuelle Redlichkeit in Form von zwei Sätzen definiert.

  • Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, etwas aufgrund unzureichender Beweise zu glauben.
  • Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, für die eigenen Überzeugungen relevante Beweise zu ignorieren, oder sie leichtfertig abzuweisen.6

Diese Position bezeichnet die akademische Philosophie als »Evidentialismus«. Die gegenteilige Position sind Dogmatismus und Fideismus. Für den Dogmatiker ist es legitim, an einer Überzeugung festzuhalten, ganz einfach weil man sie schon hat. »Fideismus nennt man in der Philosophie die Idee, dass es völlig legitim ist, an einer Überzeugung auch dann festzuhalten, wenn es keine guten Gründe oder Evidenzen für sie gibt, sogar angesichts überzeugender Gegenargumente.«7 Fideismus ist für Metzinger die Verweigerung jeder ethischen Einstellung zum inneren Handeln überhaupt.

Die evolutionäre Psychologie zeigt nun, dass der Mensch im Laufe seiner Entwicklung aber genau solche adaptiven Wahnsystem entwickelt hat, die es ihm ermöglichten, mit seiner Angst vor der eigenen Sterblichkeit umzugehen. Religiöse Vorstellungen und vor allem die darauf aufbauenden gruppendynamischen Prozesse hatten in der Evolution einen durchschlagenden Erfolg und gehören damit zur psychologischen Grundausstattung des Menschen. Das Ringen um intellektuelle Redlichkeit ist damit so etwas wie der Kampf gegen die »Ursünde«, nämlich eben unseren evolutionär entstandenen Hang intellektuell unredlich zu sein, um daraus einen emotionalen Vorteil zu ziehen.

»Religion wäre jetzt die vorsätzliche Kultivierung eines Wahnsystems, der reine Glaubensstandpunkt, also die dogmatische oder fideistische Verweigerung einer Ethik des inneren Handelns. Spiritualität dagegen wäre die epistemische Einstellung, bei der es um Erkenntnis geht. Religion maximiert emotionalen Profit – sie stabilisiert das Selbstwertgefühl, bietet dem Menschen Trost, Gemeinschaftserleben, Geborgenheit und gute Gefühle. Die spirituelle Praxis sucht nach direkter Erfahrung. Religion opfert die eigene Vernünftigkeit für die emotionale Kohärenz des Selbstmodells. Spiritualität löst das phänomenale Selbst auf. Religion ist von der Grundstruktur her dogmatisch und damit intellektuell unredlich. Spirituelle Menschen werden immer offen für rationale Argumente sein , denn es gibt für sie keinen Grund, sich diesen zu verschließen. Religionen organisieren sich und missionieren. Spiritualität ist etwas radikal Individuelles und typischerweise eher still.«8

Vor dem Hintergrund der modernen Meditations- und Kognitionsforschung zeigt Metzinger abschließend, dass es »eine Ethik des inneren Handelns [gibt], eine normative Grundidee, die sowohl einer säkularisierten spirituellen Praxis als auch dem wissenschaftlichen Ideal der intellektuellen Redlichkeit zugrunde liegt.«9 Die Meditation kultiviert laut Metzinger die inneren Voraussetzungen des kritischen, rationalen Denkens. Sie gibt dem Menschen die notwendige intellektuelle Autonomie, die eine Grundvoraussetzung für intellektuelle Redlichkeit ist. Die Redlichkeit als intellektuelle Tugend kann also ebenso kultiviert werden, wie eine präzise, sanfte Achtsamkeit, wie Mitgefühl oder andere innere Tugenden, die durch Meditation gefördert werden sollen. Metzinger setzt sich, nebenbei bemerkt, aus diesem Grund für die Einführung von Meditationstechniken im Schulunterricht ein.

Am Ende seines Essays muss er aus intellektueller Redlichkeit den Fragen nach Gott und der Unsterblichkeit der Seele und natürlich allen selbstgefälligen, klebrigen und kitschigen Formen von Spiritualität eine Absage erteilen. Er schließt seinen Essay mit einer ins Stoische schlagenden Paraphrase von Kants Definition der Aufklärung:

»Auch wenn die Entwicklung in der äußeren Welt sich vielleicht immer stärker unserer Kontrolle entziehen sollte, müssen wir deshalb an einem ›Prinzip Selbstachtung‹ festhalten: Das Mehr-Wissen-Wollen ist die einzige Option, die wir haben, wenn wir unsere Würde und den gegenseitigen Respekt voreinander und auch vor uns selbst nicht aufgeben wollen.«10

Die Transzendenz der Sozialen Plastik

Während meiner Studien zur Sozialen Plastik stieß ich auf den griechischen Philosophen und Theologen Christos Yannaras und sein Hauptwerk ›Person und Eros‹11 Yannaras erklärt in dem Werk beiläufig auch den wesentlichen Unterschied zwischen der griechischen Orthodoxie und dem römischen Katholizismus, der darin bestehe, dass die Orthodoxie Gott nicht als erste oder oberste Substanz ansehe wie das von der Substanzphilosophie inspirierte westliche Christentum. Die substanzphilosophische Deutung Gottes führe, so Yannaras, unweigerlich zu Häresien, wie zum Beispiel dem Pantheismus, der Gott in Allem sieht, mithin die Welt mit Gott gleichsetzt. Für die griechische Orthodoxie ist Gott jedoch nicht von dieser Welt. Das Wesen Gottes, seine Substanz, teilt er nicht mit der Substanz der Welt. Was sich uns mitteilt, ist seine Energie als Person. Er selbst bleibt hinter der Schöpfung verborgen. Yannaras benutzt zur Erklärung des Energie-Begriffs eine Analogie, die mir schon lange nicht mehr begegnet ist. Er vergleicht Gott mit einem Künstler wie van Gogh, dessen personale Energie sich uns in seinen Werke mitteilt. Wenn wir ein Bild von van Gogh sehen, begegnen wir der Person des Künstlers, der schon lange tot ist. Wir begegnen der Person van Gogh in seinen Bildern, in seiner Kunst, in seiner Schöpfung wie wir Gott in seiner Schöpfung begegnen. Aus diesem Gedanken entwickelt die griechische Orthodoxie ihre Spiritualität, die laut Yannaras einzig in der Gemeinschaft der Gläubigen erlebt wird.

Der Schlüssel zum Verständnis dieser religiösen Anschauung ist der Begriff der Person, den Yannaras in seinem Werk entwickelt. Es würde zu weit führen, den Gang seiner Argumentation hier nachzuvollziehen. Es soll aber angedeutet werden, dass das Verständnis Gottes als Person – die Dreieinigkeit können wir hier einmal beseite lassen – sich direkt aus dem Wesen des Menschen als Person ergibt. Die Person beschreibt er als absolutes Anderssein, als einen Zustand der Ekstase (Hineinstehen) in die Welt. Wenn man seine von Heidegger inspirierte Begrifflichkeit in gängigere Begriffe übersetzt, so gelangen wir zur Bestimmung des Menschen als eines sich seiner selbst und der Welt bewussten Wesens, das sich und die Welt in dieser Bewusstheit erkennt. Wir erkennen zwar in einem Menschen, der uns begegnet, sofort und unmittelbar die Person, doch das Wesen der Person bleibt uns verborgen, wir nehmen lediglich seine Äußerungen, seine Energie wahr. Dieses zwischenmenschliche Erkennen und Nicht-erkennen wird nun auf das göttliche Wesen gespiegelt, das als Person wahrgenommen, aber nicht erkannt werden kann, weil wir lediglich seine Schöpfung erkennen können.

Ich interpretiere hier ein wenig gegen Yannaras, der Gott natürlich nicht als Funktion des menschlichen Geistes definieren würde, also als eine Emergenz des menschlichen Intellekts, sondern als Schöpfer, der sich uns in Christus offenbart hat. Doch egal wie man die Blickrichtung wendet, der Gott der griechischen Orthodoxie lässt mir jede intellektuelle Autonomie, da er jenseits der Schöpfung existiert, die ich mit allen mir zur Verfügung stehenden intellektuellen Möglichkeiten ergründen kann. Yannaras betont mehrfach, dass die Trennung von Substanz und Energie im Gottesbegriff der Orthodoxie die Kompatibilität des Glaubens mit der modernen Naturwissenschaft sicherstellt.

Die Geschöpflichkeit der Welt und des Menschen ist die Grundlage für das spirituelle Gemeinschaftserlebnis, das die Orthodoxie ihren Gläubigen anbietet. Die Geschöpflichkeit verbindet nicht nur die Menschen untereinander, sondern auch den Menschen mit seiner Umwelt und dem gesamten Kosmos. Letztlich basiert aber auch die griechische Orthodoxie auf einem Dogma. Auch der orthodoxe Glauben ist letztendlich blanker Fideismus und unvereinbar mit intellektueller Redlichkeit.

Doch es gibt einen Ausweg. Wenn wir den Gedanken der Geschöpflichkeit rein formal betrachten, so finden wir eine relationale Ontologie vor. Seiendes wird nicht aufgrund seiner Substanz bestimmt, sondern gemäß seiner Bezogenheit. In der Religion ist das, auf das Seiendes bezogen wird, Gott. Geschöpflichkeit lässt sich aber auch naturwissenschaftlich und geistesgeschichtlich definieren. Wir und die Umwelt, in der wir leben, sind Geschöpfe der Generationen vor uns. In ›Demeter und die Allmende des Seins habe ich dies am Bespiel des Getreides exemplarisch gezeigt.

Die Getreidesorten, die wir heute kennen, sind aus Süßgräsern entstanden. Der Mensch spielt in dem Entstehungsprozess des Getreides eine entscheidende Rolle und zwar bereits lange bevor er anfing, bewusst ertragreichere Getreidesorten zu züchten. Das Getreide und die in der DNA gespeicherte genetische Information ist das Werk vieler Generationen von Menschen. Die Schöpfer des Getreides sind tot, aber ihre Energie können wir noch in der Nahrhaftigkeit des Getreides wahrnehmen. Aber nicht nur das Getreide, auch wir selbst sind biologisch über die Vererbungslinie und kulturell über das Erbe der Zivilisation die Geschöpfe unserer Ahnen.
Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Ohne die zivilisatorischen Leistungen derjenigen, die uns vorausgegangen sind und aus denen wir entstanden sind, wären wir nicht das, was wir heute sind. Diese Erkenntnis ist eine spirituelle Erfahrung, denn sie verbindet uns nicht nur mit allen Menschen auf diesem Planeten, sondern auch mit allen anderen Lebewesen, die als Geschöpfe aus Geschöpfen hervorgegangen sind, die auch wir zu unseren Ahnen zählen müssen, oder die in sich gegenseitig beeinflussenden evolutionären Prozessen gemeinsam mit uns entstanden sind. Das Sein, so wie es heute ist, ist ein relationales Sein, es ist, so wie es ist, aufgrund vorherigem Sein. Spiritualität, die das eigene Sein transzendiert, ist also durchaus ohne Verletzung der intellektuellen Integrität möglich.

Der Begriff der Sozialen Plastik gibt uns nun die Möglichkeit, die spirituelle Erkenntnis der Bezogenheit aller Geschöpfe in praktischem Handeln zu erfahren. Beuys hat den Begriff der Sozialen Plastik im Zuge seines Erweiterten Kunstbegriffs entwickelt. Bei Beuys blieb der Begriff jedoch unscharf. Unter den Erweiterten Kunstbegriff fasste er die gesamte Kreativität des Menschen und sein ganzes zivilisatorisches Handeln, sodass man die Soziale Plastik mehr oder weniger mit unserer Zivilisation gleichsetzen kann. Beuys hat damit, das Gleichnis des Yannaras, in dem Gott die Stelle des Künstlers einnimmt, humanisiert. In der Sozialen Plastik nimmt die Menschheit gleichzeitig den Platz des Schöpfers und der Schöpfung ein. Aber Beuys deutet auch an, dass die Soziale Plastik misslungen und entstellt sein kann.12

In ›Soziale Plastik. Die Kunst der Allmende‹ konnte ich zeigen, dass eine gelungene Soziale Plastik als eine Allmende zu bestimmen ist. Die Bestimmung der Sozialen Plastik als Gemeingut oder Commons eröffnet uns die Möglichkeit, die spirituelle Erkenntnis der Bezogenheit aller Geschöpfe in praktisches Handeln zu verwandeln. Die Commons-Forschung nennt diese Praxis das Commoning. Wenn also der Mensch von Natur aus ein Wesen ist, das des Spirituellen bedürftig ist, intellektuell redliche Spiritualität aber gegen die Versuchungen von Dogmatismus und Fideismus jeden Tag neu erkämpft werden muss, dann kann die Soziale Plastik und das Commoning bei der Kultivierung einer intellektuell redlichen Spiritualität eine wichtige Aufgabe übernehmen. Sie konkretisiert die spirituelle Erkenntnis der Einheit aller Geschöpfe in ihrer Geschöpflichkeit. Was das orthodoxe Christentum und andere Religionen dogmatisch bestimmen, und im spekulativen Erbschaftsgedanken, den ich in ›Demeter und die Allmende des Seins‹ entwickelt habe, zu einer evidentialistisch begründeten, spirituellen Erkenntnis wird, wandelt sich in der Sozialen Plastik und im Commoning zu konkretem sozialem Handeln.

Intellektuell redliche Spiritualität ist, wie Metzinger zeigte, eine mühsame und anstrengende Kultivierungsarbeit. Sie ist unsere einzige Option in einer verwahrlosten Welt. Wenn Spiritualität nicht auf sozialtherapeutischer Ebene als Reparaturmethode für verletzte Seelen verharren will, muss sie in unser tägliches Leben hineinwachsen und dort die zerstörerischen Einflüsse der kapitalistischen und neoliberalen Lebensweise verdrängen. Durch die Soziale Plastik und das Commoning erhielte unser Wirtschafts- und Sozialsystem eine wesentlich spirituellere Fundierung. Befreit von den Dogmen des Kapitalismus und seinen zerstörerischen Einflüssen könnte die Aufklärung dann ihre Kultivierungsarbeit von Neuem und mit verdoppelten Kräften wieder aufnehmen.


  1. Metzinger, Thomas: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit. In: Ein Versuch. Selbstverlag, Mainz. Online als PDF unter: http://​ www.​ philosophie.​ uni-mainz.​ de/​ Dateien/​ Metzinger​ SIR (2013). Internet: http://www.blogs.uni-mainz.de/fb05philosophie/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger_SIR_2013.pdf. Zuletzt geprüft am: 5.8.2016. ↩︎

  2. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand (1872/3 [1690]). Viertes Buch, Kap. XVII, § 24. ↩︎

  3. Vgl Anm. 13 in Metzinger, Thomas: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, S. 35 ↩︎

  4. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, 1797 (II. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Zweites Hauptstück, § 9: Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als einem moralischen Wesen) ↩︎

  5. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra IV (Der Blutegel) ↩︎

  6. Vgl. Clifford, W.K. (1999 [1877]), „The ethics of belief”, in T. Madigan (ed.), The ethics of belief and other essays, Amherst, MA: Prometheus, 70 - 96. (Übersetzung von Thomas Metzinger) ↩︎

  7. Metzinger, Thomas: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, S. 16 ↩︎

  8. Ebd. S. 27f ↩︎

  9. Ebd. S. 32 ↩︎

  10. Ebd. S. 31f ↩︎

  11. Giannaras, Chrēstos: Person und Eros : e. Gegenüberstellung d. Ontologie d. griech. Kirchenväter u.d. Existenzphilosophie d. Westens / Christos Yannaras. [Aus d. Griech. von Irene Hoening]. Göttingen 1982. ↩︎

  12. Vgl. Hasecke, Jan Ulrich: Soziale Plastik. Die Kunst der Allmende: Ein Essay zum 30. Todestag von Joseph Beuys. 1. Aufl. 2016, S. 35f ↩︎