Die Piratenpartei will die falschen Probleme lösen

Seitdem die Piratenpartei versucht, die falschen Probleme lösen zu wollen, geht es mit ihr bergab.

Nach langer Zeit war die Piratenpartei mal wieder in den Schlagzeilen, als sie ankündigte ihre Mitglieder per Brief (das ist das mit den Briefmarken) zu befragen, um den Richtungsstreit zu entscheiden. Ein tieferer Fall ist bei einer Partei, die angetreten war, um unserem Land ein digitales Demokratie-Update zu verschaffen, wohl kaum denkbar. Entsprechend heftig ist die Häme. Dieser Rückfall in die Zeiten von Politik 1.0 ist leider nur das letzte Glied in einer Kette von Ereignissen, die zeigen, dass die Piraten völlig die Orientierung verloren haben. Als ich meine Entgeisterung über die Mitgliederbefragung 1.0 auf Twitter kund tag, fragte mich ein Freund: »Also, what’s next?«1

Ich habe auf diese Frage keine Antwort, denn zunächst müssten wir wissen, was überhaupt falsch gemacht worden ist. Darüber gibt es zig Analyse, von denen die meisten jedoch viel zu kurz springen. Auch ich wusste lange Zeit nicht, was die Piraten falsch gemacht haben und wann es anfing. Doch dann fiel es mir während der EuroPython 2014 wie Schuppen von den Augen, als ich die Keynote von Pieter Hintjens hörte.2 Irgendwann sagte er in der Keynote sinngemäß, dass man sich auf die richtigen Probleme konzentrieren müsse, dass man versuchen solle, die richtigen Probleme zu lösen, und dass nichts fataler sei, als die falschen Probleme zu lösen.

Das ist die Antwort. Die Piratenpartei versucht seit einigen Jahren, die falschen Probleme zu lösen. Vielleicht begann der Irrtum bereits mit ihrer Gründung. Denn 2009, als ich noch nicht Mitglied der Piratenpartei war, war ich noch in der Lage zu erkennen, dass die Gründung einer neuen Partei keines der Probleme löst, die uns auf den Nägeln brennen: Parteien sind ein Konzept des 20. Jahrhunderts.3 Ich kann mir allerdings schmeicheln, dass ich das auch später nicht glaubte.4

Doch die neue Partei war Anti-Partei genug, um meine Bedenken weg zu wischen. Denn es gab da völlig offene Arbeitskreise, in denen Lösungen für die richtigen Probleme gesucht wurden. Wir haben uns gefragt, wie wir Bildung im 21. Jahrhundert organisieren können. Und wir fanden mit der fließenden Schullaufbahn eine interessante Lösung.5 Wir haben uns gefragt, wie wir das Problem der Automatisierung und der zunehmenden sozialen Unterschiede lösen können? Und wir haben die diffuse Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens mehr und mehr konkretisiert. Wir haben uns gefragt, wie man viele Menschen an der politischen Willensbildung beteiligen kann. Und wir fanden in Liquid Feedback eine erste, wenn auch nicht perfekte Lösung.

Dann aber begann die Partei das falsche Problem lösen zu wollen. Sie frage sich: »Wie können wir eine erfolgreiche Partei werden?« Dieses Problem interessiert aber niemanden, außer einer Handvoll ärmlicher Parteiseelen. Das Problem wurde auch bereits von vielen Parteien erfolgreich gelöst. Die Lösung liegt quasi auf der Hand. Man muss bloß die Lösungen der anderen Parteien übernehmen. Man muss wie sie werden. Also genau das Gegenteil von dem, was wir immer wollten.

Eine erfolgreiche Partei muss mit einer Stimme sprechen oder wenigstens eine gemeinsame Ausrichtung haben. Wer das Problem ›Wahlerfolg‹ lösen will, muss überall Position beziehen. Er braucht ein Vollprogramm, weil man das Problem ›Prozentpunkte‹ nur lösen kann, wenn man auf alle Fragen der Bürger (bzw. der Medien) eine Antwort hat. Und wer ein Programm haben will, muss Entscheidungen zu Sachfragen herbeiführen, die entweder überhaupt nicht zur Debatte stehen oder noch nicht einmal ansatzweise ausdiskutiert worden sind.

Jede Entscheidung in einer Partei macht sie ärmer. Ärmer an Positionen, ärmer an Sichtweisen, ärmer an Methoden. Vor allem aber ärmer an der Fähigkeit, die richtigen Probleme zu identifizieren. Denn jeder ist rund um die Uhr damit beschäftigt, die falschen Probleme zu lösen.

Wer das Problem ›Wahlerfolg‹ lösen will, muss lügen, denn nur diejenigen Parteien haben Erfolg, die gut lügen. Wenn eine Partei den Erfolg will, muss sie die eigenen Mitglieder belügen, die Wähler belügen und vor allem die Medien belügen. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wird zum zentralen Problem einer Partei. die den Erfolg sucht. Das Problem ›Machtergreifung‹ überlagert alles. Es lässt keinen Raum mehr für ein Problembewusstsein jenseits des nächsten Wahltermins.

Wer das Problem ›Wählerzustimmung‹ lösen will, muss der Partei eine marktkonforme Ausrichtung geben. Die Menschen wählen Parteien nach den gleichen Mustern, nach denen sie Kaufentscheidungen treffen. Deshalb braucht jede Partei einen Markenkern und eine attraktive Verpackung. Wer eine erfolgreiche Partei haben will, muss einen Richtungsstreit entfachen und entscheiden. Das heißt, er muss Positionen, Sichtweisen und Methoden ausgrenzen.

Vielleicht kann eine Partei zwangsläufig nur die falschen Probleme lösen, denn ihr Hauptproblem ist immer der eigene Erfolg, die Teilhabe an der Macht. Es ist für eine Partei enorm schwer, die richtigen Probleme zu identifizieren. Schlimmer noch! Sie macht es auch ihren Mitgliedern schwerer, die richtigen Probleme zu entdecken, da diese ständig damit beschäftigt sind, die falschen zu lösen. Parteien verschwenden die Ressource Intelligenz. Sie verschwenden die Fähigkeit von Menschen, die richtigen Probleme zu identifizieren.

Es wäre falsch, der Piratenpartei vorzuwerfen, dass sie statt der wichtigen Probleme, nur die Probleme lösen will, die andere Parteien auch haben: die Machtprobleme. Einer Partei vorzuwerfen, dass sie sich wie eine Partei verhält, ist müßig.

Also, what’s next?

Die Piratenpartei hat immer noch viele Mitglieder. Und sie hat allen Shitstorms und Gates zum Trotz immer noch viele Freunde. Es gibt immer noch viel zu tun. Überall tun sich Menschen zusammen, um an der Lösung wichtiger Probleme zu arbeiten. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Kann die Piratenpartei da noch eine Rolle spielen?

Ich weiß es nicht. Aber die Piratenpartei sollte aufhören, die falschen Probleme lösen zu wollen. Sie sollte endlich wieder die richtigen Fragen stellen. Der Richtungsstreit in der Partei berührt ein Problem, das weniger wichtig ist als der sprichwörtliche Sack Reis in China. Es ist das Problem von vielleicht zwei Dutzend Personen innerhalb der Partei. Warum sollten wir uns dieses Problem zu eigen machen?

Die Partei war im Aufwind, solange sie das Prinzip des Crowdsourcings erfolgreich anwenden konnte. Crowdsourcing funktioniert umso besser, je diverser und unabhängiger die agierende Gruppe ist. Eine Partei widerspricht diesem Prinzip, da eine Partei die Diversität und Unabhängigkeit einer Gruppe langfristig immer schmälern wird. Wenn die Piratenpartei der Ort sein will, in dem die richtigen Probleme angesprochen und gelöst werden, dann muss sie alles dafür tun, ihre eigene Diversität und Unabhängigkeit zu vergrößern. Einen dualistisch verarmten Richtungsstreit vom Zaun zu brechen oder ihn entscheiden zu wollen, ist dafür nicht die richtige Strategie.

Literatur

EuroPython 2014 - Session: Our decentralized future. In: EuroPython 2014. 2014. Internet: http://ep2014.europython.eu/. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014.

juh: Dass sich die #Piratenpartei mit der Briefwahlaktion erst zum Brot machen muss, um mal wieder in die Medien zu kommen, ist hochnotpeinlich. In: @__juh__. 2014. Internet: https://twitter.com/__juh__/status/498152241384407041. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014.

Schule. In: Piratenpartei NRW. 2012. Internet: http://www.piratenpartei-nrw.de/politik/bildungspolitik/schule/. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014.

Fußnoten


  1. Juh: Dass sich die #Piratenpartei mit der Briefwahlaktion erst zum Brot machen muss, um mal wieder in die Medien zu kommen, ist hochnotpeinlich. In: @__juh__. 2014. Internet: https://twitter.com/__juh__/status/498152241384407041. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014. ↩︎

  2. EuroPython 2014 - Session: Our decentralized future. In: EuroPython 2014. 2014. Internet: http://ep2014.europython.eu/. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014. ↩︎

  3. Vgl. Parteien sind ein Konzept des 20. Jahrhunderts ↩︎

  4. Vgl. Lieber Bürger, wir müssen reden ↩︎

  5. Schule. In: Piratenpartei NRW. 2012. Internet: http://www.piratenpartei-nrw.de/politik/bildungspolitik/schule/. Zuletzt geprüft am: 27.9.2014. ↩︎