El eje! El eje!

Über das Glück, sich ab und zu wieder wie ein Anfänger zu fühlen.

Eine Woche lang war ich auf einer Tangoreise. Acht Stunden Tango pro Tag. Zwei Stunden davon waren Workshops mit wundervollen Lehrern. Unterrichtet wurde in Gruppen mit wechselnden Lehrern für niedriges, mittleres und hohes Niveau. Da meine Frau und ich seit neun Jahren tanzen, haben wir die Workshops für hohes Niveau besucht. Die Workshops hatten klangvolle Titel und jedes Lehrerpaar unterrichtete nach ihren individuellen Vorstellungen. Dennoch hatten die Kurse und Workshops, die wir besucht haben, etwas Gemeinsames. Es ging immer wieder um ganz grundsätzliche Dinge, wie den Takt oder die Achse. »El eje! El eje!« So lautete immer wieder die Mahnung der Lehrer.

In der eigenen Achse zu tanzen, sie bei allen Bewegungen zu halten – das ist auch nach neun Jahren Tango keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil. Ich habe mich in dieser Woche immer wieder wie ein Anfänger gefühlt.

»Wer aufhört zu lernen, ist alt«, hat Henry Ford gesagt. Das ist höflich ausgedrückt. Man könnte auch sagen: Wer aufhört zu lernen, wird unerträglich. Denn er vergisst, dass er noch nicht alles weiß, noch nicht alles kann. Wer aufhört zu lernen, glaubt, die Weisheit mit Löffeln in sich hineingeschaufelt zu haben, während er vielleicht nur mit einer Gabel in seiner dürftigen Weisheitssuppe herumgestochert hat.

Wir haben unseren Lehrern nach den Workshops gedankt, weil sie uns das Gefühl gegeben haben, wieder von vorn zu beginnen, bei den einfachsten und grundlegendsten Dingen: dem Takt, der Achse, dem Gehen. El compás. El eje. El caminar.

Sich wieder wie ein Anfänger zu fühlen, macht bescheiden, macht nachsichtig, macht wach. Jeder, der etwas gut kann und sich deshalb die besten Lehrer sucht, um weiter zu lernen, wird diese Erfahrung gemacht haben.

Wir aufgeklärten Mitteleuropäer glauben, Demokratie gut zu können. Leider haben wir aber aufgehört zu lernen. Wir suchen uns nicht die besten Lehrer, um weiter zu lernen, sondern glauben, der Weisheit letzten Schluss zu besitzen. Dass dies ein Fehlschluss ist, belegt ein Blick in die Politik. Dort sieht es aus wie auf einer Milonga, auf der Anfänger stolz wie Oskar ihre ersten Schritte präsentieren.

Dabei gäbe es so viel zu lernen! Und es gibt tatsächlich einen Demokratie-Lehrer, der uns das Gefühl gibt, wieder bei Null anzufangen: die Soziokratie. Wer das Buch »We the People: Consenting to a Deeper Democracy«1 liest, erkennt plötzlich, dass er von wirklicher Demokratie bisher nicht viel verstanden hat. Er glaubt, wieder bei Null anzufangen. In der soziokratischen Entscheidungsfindung werden alle Einwände gegen eine Entscheidung ernst genommen, sogar die, die gar nicht vorgetragen werden. Jeder Teilnehmer an einer Entscheidungsrunde soll Zeit und Gelegenheit haben, seine Bedenken und Argumente zu entwickeln, zu formulieren und vorzutragen. Es geht in der soziokratischen Entscheidungsfindung darum, noch nicht hinreichend verbalisierte Einwände offen zu legen und in die Entscheidung zu integrieren, anstatt sie zu übergehen oder per Mehrheitsbeschluss zu überstimmen. In der Soziokratie sollen Entscheidungen gefällt werden, denen alle zustimmen können, die von allen mitgetragen werden. Das nennt man Konsent.

Wer sich mit Soziokratie beschäftigt, erkennt plötzlich, dass unsere Demokratie nichts anderes ist als ein agonistischer Wettstreit der Meinungen, in der die Mehrheit das legitime Recht erwirkt, die Meinung der Minderheit nicht mehr zu beachten. Der Maßstab demokratischer Politik ist daher auch nicht die Problemlösung, sondern die Mehrheitsfähigkeit.

Das System prägt die Menschen, die in ihm agieren. In unserer Demokratie setzen sich deshalb die Politiker durch, die mehrheitsfähige Positionen vertreten. Das geht so weit, das die Politiker schließlich nur noch Positionen vertreten, von denen sie glauben, dass sie mehrheitsfähig sind. Der Demoskop wird so zum besten Freund des Politikers. Der Prototyp eines solchen Politikers ist Merkel. Sie ist die personifizierte Mehrheitsfähigkeit. Von ihr sind daher kaum Problemlösungen zu erwarten.

Leider glauben auch viele Piraten, Demokratie gut zu können. Piraten beherrschen die Basisdemokratie besser als die Grünen zu ihren aufsässigsten Zeiten. Piraten beherrschen innovative Methoden der Willensbildung wie Liquid Feedback. Piraten haben den Datenschutz mit der Muttermilch eingesogen. Piraten sind Meister der Transparenz. Piraten lassen die Bürger sogar im Landtag mitwirken. Das ist alles richtig. Aber es wäre schön, wenn auch Piraten ab und zu das Gefühl hätten, Anfänger zu sein und bei Null anzufangen. Es würde sie bescheidener, nachsichtiger und wacher machen. Ein Blick in das Buch »We the people« könnte hier Wunder wirken. Denn dort ruft ständig jemand: El eje! El eje!

Literatur

Buck, John Jr/Villines, Sharon: We the People. Washington, DC 2007.

Fußnoten


  1. Buck, John Jr/Villines, Sharon: We the People. Washington, DC 2007. ↩︎