Dich zeig' ich an, du Minister!

Politik lernt man nicht vor Gericht

Deutschland ist Weltmeister! In keinem anderen Land der Erde werden so viele Strafanzeigen gestellt. Im Durchschnitt zeigt jeder Deutsche in seinem Leben drei andere an: einen Nachbarn, einen Autofahrer, einen Fahrradfahrer, einen Fußgänger, einen Verkäufer, einen Käufer, einen Angestellten, einen Vorgesetzten und manchmal eben auch einen Minister.

Die Zahl der Anzeigen übersteigt jede Vorstellungskraft. Sie werden daher nicht einmal statistisch erfasst. Müssten die Staatsanwaltschaften die Anzeigen, die jeden Tag bei ihnen eingehen, auch noch zählen, sie kämen zu nichts anderem mehr. Die meisten Anzeigen verlaufen im Sande. Nur ein Bruchteil aller Anzeigen hat irgendwann einmal einen Gerichtsprozess zur Folge. 2010 erledigten die Zivilgerichte 1586652 und die Strafgerichte 804053 Verfahren.

Der Streit mag noch so überflüssig und die Kränkung noch so geringfügig sein. Der Deutsche fühlt sich am wohlsten, wenn er seine Auseinandersetzung vor Gericht austragen kann. Für Juristen ist Deutschland das Gelobte Land. Sie sind überall. Denn im Land der Prozesswütigen kommt kein Unternehmen ohne eine Heerschar an Volljuristen aus. Rund 100.000 Studenten bereiten sich an den Universitäten darauf vor, in die Fußstapfen der Abmahnanwälte, Rechtsverdreher und Paragraphenreiter zu treten, die mit der befriedigenden Gewissheit in den wohlverdienten Ruhestand gehen, vielen Mitmenschen das Leben zur Hölle gemacht zu haben. Juristen sind überall. Eine besonders hohe Dichte an Juristen findet man in den Parlamenten, wo sie die Gesetze formulieren, von deren Durchsetzung sie leben.

Ein Parlamentarier hat ein großes Privileg. Er kann die Regierung kontrollieren und er kann im Parlament vor laufenden Fernsehkameras den Mitgliedern der Regierung seine Meinung ins Gesicht schleudern. Ein Bürger kann das nicht. Ein Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags könnte also dem Finanzminister vom Rednerpult aus zurufen: »Mit Verlaub, Herr Minister, Sie betreiben Beschaffungskriminalität!« Ein Parlamentarier kann Anfragen stellen und den Finanzminister fragen, ob er eine öffentliche Ausschreibung für den Erwerb illegal beschaffter Daten von Schweizer Bankkunden getätigt hat.

Doch ein Jurist wäre kein Jurist, wenn er es bei bloßen Reden belassen würde. Es muss schon eine Anzeige sein! Das Privileg, der Regierung die Meinung zu sagen, sie zu kontrollieren, ihr unangenehme Fragen zu stellen, sie vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu zerren – das ist für einen Juristen nicht mehr als Tändelei und Vorspiel. Das Hauptstück ist die Anzeige und das große Finale der Prozess.

Und was für den Juristen Neigung und innerer Vorbeimarsch ist, gerät dem Polizisten zur strengen Pflicht. Wer als Polizeibeamter sein Berufsleben lang jeden Verdacht auf eine Straftat zur Anzeige bringen muss, so er denn nicht suspendiert werden möchte, kann diese Gewohnheit im Parlament natürlich nicht sofort ablegen. Es ist nicht leicht, aus der Exekutive in die Legislative hineinzuwachsen.

Es ist also wahrlich kein Wunder, wenn ein Zollfahnder, ein Polizist und zwei Rechtsanwälte beschließen: Dich zeig’ ich an, du Minister! Und es war vorherzusehen, dass NRW-Finanzminister Walter-Borjans diese Steilvorlage nutzt und schmunzelnd zur Kenntnis nimmt, dass »die Kämpfer für Transparenz zu Hütern des Schweizer Bankgeheimnisses und der dort angelegten Schwarzgeldmilliarden« werden.