Was leider immer wieder gesagt werden muss

Die Selbstgerechtigkeit, mit der einige Leute Israel der Kriegstreiberei bezichtigen, könnte ich – mit Mühe zwar, doch schweigend – ertragen. Diese Leute sind in einem Land aufgewachsen, dessen Existenzrecht nicht einmal 1945 ernsthaft in Fragen gestellt wurde, nachdem ihr Land an der Menschheit bis dahin unvorstellbare Verbrechen begangen hatte. Sie können sich deshalb schlicht und einfach nicht vorstellen, von Nachbarn umgeben zu sein, die nichts mehr wünschen, als ihr Land von der Landkarte zu tilgen.

Sie sind in einem Land aufgewachsen, dessen Nachbarn keine Terroristen dabei unterstützen, Bomben zu legen und Busse in die Luft zu sprengen. Der größte Feind ihres Landes hilft bloß gut betuchten Kriminellen, ihr Geld am Fiskus vorbei zu schleusen. Dass diese Friedensfreunde den permanenten Ausnahmezustand, in dem sich die Streitkräfte Israels befinden, mit Kriegstreiberei verwechseln, lässt zwar auf wenig Einfühlungsvermögen schließen, ist aber mit viel Einfühlungsvermögen noch so gerade eben nachvollziehbar.

Wenn aber Leute die Mär verbreiten, wir dürften in Deutschland die Politik Israels nicht kritisieren, ohne als Antisemit beschimpft zu werden, dann kommt mir die Galle hoch. Meist kommt dieser Vorwurf von äußerst dümmlichen Personen, die ihn in bester Stammtischmanier nachbeten, manchmal aber auch – und dann wird es perfide – von Leuten, die intelligent und gebildet sind und daher keine mildernden Umstände erwarten dürfen. Aber auch das kann ich noch schweigend ertragen.

Als ich nun aber das ›Gedicht‹ von Günter Grass lesen musste, den ich als Schriftsteller und intellektuellen Trommler verehre, da war ich so fassungslos, dass mir nicht einmal mehr die Galle hochkam. Hätte ich in einigen besonders eitlen und gespreizten Worten nicht sofort den Literaturnobelpreisträger erkannt, es hätte eine Fälschung sein können. Aber dies ›gealtert und mit letzter Tinte‹ ist so unverwechselbar, dass es keine Zweifel gab.

Was über das ›Gedicht‹ gesagt werden kann, hat Frank Schirrmacher bereits getan.1 Ich will dem nichts mehr hinzufügen. Das Gedicht ist so erbärmlich, dass ich mich mit jeder Zeile, die ich las, mehr für Grass schämte. Das Gedicht ist, wie Schirrmacher so richtig schreibt, »ein Machwerk des Ressentiments, (…) ein Dokument der ›imaginären Rache‹ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation.« Grass ist kein Antisemit, aber sein Gedicht ist durchdrungen vom sekundären Antisemitismus.2 »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.« – dieses angeblich von dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex stammende Bonmot, das der von mir immer weniger geschätzte Broder in Umlauf gebracht hat, bringt vieles auf den Punkt.

Ich habe den Verdacht, dass viele der Friedensfreunde, die Israel Kriegstreiberei vorwerfen, dies nicht aus ehrlicher Freundschaft – weder zu den Israelis noch zu den Palästinensern – tun, sondern bestenfalls, um ihre moralische Kränkung zu überwinden, die, wie Walser in seiner unsäglichen Friedenspreisrede3 andeutete, wohl auch Nachgeborene schmerzen kann. Wie oft hört man nicht den Vorwurf, dass dem Nationalsozialismus und dem Holocaust im Geschichtsunterricht, soweit es ihn an den Schulen überhaupt noch gibt, zu viel Platz eingeräumt würde! Werden also in unseren Schulen sekundär Gekränkte herangezüchtet, die wie Grass bloß ihrer Eitelkeit die Zügel schießen lassen, wenn sie Israel kritisieren? Wenn man dem Geraune auf Twitter zuhört, hat man jedenfalls den Eindruck, Israel plane einen atomaren Vernichtungskrieg gegen das iranische Volk. Und darüber – so der gemeine Twitterer – darf man sich ja wohl noch entrüsten!

Es ist erschreckend, wie unkritisch über Twitter & Co. antisemitische Botschaften verbreitet werden, selbst von Leuten, die das vermutlich niemals im Sinn haben. So schreibt eine Twitterin: »Der Holocaust war furchtbar, keine Frage. Aber selbst DAS gibt Israel nicht den Blankoscheck für den Umgang mit den Palästinensern im Gaza.«4 Bevor man in 140 Zeichen den Nahostkonflikt abschließend analysiert, sollte man vielleicht noch einmal lesen, was man geschrieben hat. Allein schon die Phrase ›Der Holocaust war furchtbar, keine Frage, aber…‹ ist implizit antisemitisch. Nicht nur weil sie den Holocaust relativiert (keine Frage, der Holocaust war schlimm, aber waren viele andere Verbrechen nicht auch schlimm?), sondern vor allem, weil die Wortwahl suggeriert, die Israelis würden aufgrund des Holocausts Sonderrechte in Anspruch nehmen. Hinzu kommt zudem noch die untergründige Anspielung auf das angebliche Kritiktabu. Hinter dem ›der Holocaust war furchtbar, aber‹ kann man nun beliebige Vorwürfe gegen Israel einsetzen. Es passt immer. Bei der zitierten Twitterin ist es der Vorwurf, dass selbst der Holocaust, Israel nicht das Recht gäbe, so mit den Palästinensern im Gaza umzugehen, wie sie mit ihnen umgehen. Leider verrät uns die Twitterin nicht, wie die Israelis denn nun mit den Palästinensern umgehen, aber die Nähe zu dem Begriff ›Holocaust‹ lässt NLP-geschulte Ohren Böses ahnen.

Der Tweet spricht den Israelis schlichtweg das Recht zur Verteidigung ab. Denn, so suggeriert er, wenn selbst der Holocaust, also das denkbar schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte den Israelis nicht das Recht gibt, sich zu wehren, dann kann es ja rein gar nichts geben, was dieses Recht begründen würde. – Doch, es gibt etwas! Die israelische Armee fliegt ja nicht deshalb Angriffe auf Stellungen in Gaza, weil der Holocaust ihnen das Recht dazu gibt, sondern weil sie angegriffen werden. Es werden nämlich von Gaza aus – und das sollte eigentlich jeder wissen – immer wieder Raketen auf Israel abgeschossen. Jedem anderen Staat räumt man in so einem Fall das Recht zur Selbstverteidigung ein, nur Israel nicht.

Und was die Verhältnismäßigkeit der Mittel angeht, die ja so gerne angeführt wird, um Israel zu kritisieren, so könnte sich so mancher Staat ein Beispiel an Israel nehmen. Die USA haben, nachdem sie am 11. September angegriffen wurden, gleich zwei Staaten am anderen Ende der Welt überfallen. Russland ist in Tschetschenien einmarschiert und hat das Land verwüstet, als es seine Unabhängigkeit erklärte. Die Türkei führt seit Jahrzehnten Krieg gegen kurdische Rebellen. Die Liste lässt sich verlängern. Wenn Israel eine Ausnahme ist, dann aufgrund seiner eher maßvollen Reaktion auf den ununterbrochenen Terror. Ich möchte nicht wissen, was wir an seiner Stelle tun würden.

Wer die Mauer in Gaza kritisiert, sollte wissen, dass diese Mauer Terroristen davon abhalten soll, nach Israel zu kommen und dort Anschläge zu verüben. Die USA bauten einen Zaun an der Grenze zu Mexiko aus weit banaleren Gründen. Dass die Mauer Gaza zu einem Gefängnis macht, ist schlimm. Wer aber ihren Abriss fordert, sollte die Hamas auch dazu aufrufen, die Waffen niederzulegen und Israel anzuerkennen. Ansonsten fordert er nämlich nicht anderes, als dass Israel die Terroristen gefälligst einreisen lassen soll.

Doch kommen wir zurück zu den iranischen Atomwaffen. Israel befindet sich in einer fürchterlichen Zwickmühle, die wohl kaum ein Außenstehender verstehen kann. Der israelische Schriftsteller David Grossmann beschreibt die Situation in der FAZ.5 Und er stellt die Fragen, die sich auch die israelische Führung stellen muss. Ist Ahmadinedschad der Maulheld, für den ihn Grass hält? Oder ist er wie Hitler, den auch viele als Maulhelden unterschätzt haben, zum Vernichtungskrieg entschlossen, sobald er die dafür notwendigen Waffen in der Hand hat? Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung. Wenn Ahmadinedschad die Absicht hat, Israel mit Atomwaffen anzugreifen, sobald er diese zur Verfügung hat, dann muss die israelische Führung alles tun, um dies zu verhindern. Ist es bloß Penisneid, das Ahmadinedschad nach der Mutter aller Waffen streben lässt, dann sieht die Sache anders aus.

Grossmann beneidet die israelische Führung nicht, die diese Frage momentan entscheiden soll. Er hält die Frage letztlich für unbeantwortbar, sodass er die Sache einmal von einer anderen Seite aus betrachtet. Was passiert mit Israel, wenn das Land die iranischen Nuklearanlagen bombardiert?

»Iran ist bekanntlich nicht bloß ein radikaler fundamentalistischer Staat. Große Teile der Bevölkerung sind säkular, gebildet und aufgeklärt. Viele von ihnen haben in Demonstrationen gegen das verachtete diktatorische Regime ihr Leben riskiert. Dass ihr Herz für Israel schlägt, will ich gar nicht behaupten, aber sie sind vielleicht diejenigen, die das Land irgendwann regieren werden, und vielleicht werden sie sich sogar für Israel erwärmen. Ein israelischer Angriff würde diese Chance auf Jahre hinaus zunichtemachen. (…) Und weil niemand sagen kann, ob Iran tatsächlich angreifen wird, wenn er über Atomwaffen verfügt, darf Israel nicht seinerseits angreifen. Ein solcher Angriff wäre übereilt und würde uns eine Zukunft bescheren, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte. Doch, ich kann es mir vorstellen, aber meine Hand weigert sich, es aufzuschreiben.«6

Auch ich will mir die Konsequenzen eines israelischen Angriffs auf die iranischen Atombunker nicht vorstellen. Mit Israel und dem Iran würden dann die beiden Länder des Nahen Ostens gegeneinander Krieg führen, die mir persönlich besonders nah stehen. Der Iran durch persische Bekannte; Israel, weil ich es selbst besucht habe.

Israel ist der einzige demokratische Rechtsstaat im Nahen Osten. Es ist ein weltoffenes und tolerantes Land,7 dessen Bewohner vor allem eins wollen: Frieden.8 Die säkulare Jugend Irans, die 2009 gegen die Theokratie in ihrem Land protestierte, und die Israelis gemeinsam könnten einer ganzen Region mehr Frieden, mehr Freiheit und mehr Sicherheit bringen. Es wäre furchtbar, wenn es anders käme.

Der Sonderparteitag der Piratenpartei NRW hat am Wochenende klugerweise ein antiisraelisches Positionspapier, in dem Solidarität mit Grass gefordert wurde, ohne Diskussion nahezu einstimmig abgelehnt. Das begrüße ich sehr. Es zeigt, dass ich in der richtigen Partei bin. Auslöser, nun doch das Tag anzubringen, war der Schiedsspruch des Bundesschiedsgerichts, den Holocaust-Leugner Thiesen nicht aus der Partei auszuschließen. Ich fühle mich da mit dem Bundesvorstand einig, der diese Entscheidung bedauert.9

Literatur

Grossman, David: Israelisch-iranischer Atomkonflikt Bevor unsere Ohren taub werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2012). Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/israelisch-iranischer-atomkonflikt-bevor-unsere-ohren-taub-werden-11681740.html. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Pressemitteilung zum Urteil des Bundesschiedsgerichtes in der Causa Bodo Thiesen. In: Piratenpartei Deutschland. 2012. Internet: https://www.piratenpartei.de/2012/04/16/urteil-causa-bodo-thiesen/. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Probst, Julia: Der Holocaust war furchtbar, keine Frage. Aber selbst DAS gibt Israel nicht den Blankoscheck für dem Umgang mit den Palästinenserin im Gaza. In: @EinAugenschmaus. 2012. Internet: https://twitter.com/EinAugenschmaus/status/188995622160969730. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Schirrmacher, Frank: Eine Erläuterung Was Grass uns sagen will. In: FAZ.NET (2012). Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/eine-erlaeuterung-was-grass-uns-sagen-will-11708120.html. Zuletzt geprüft am: 5.4.2012.

Sekundärer Antisemitismus | bpb. 2006. Internet: http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37962/sekundaerer-antisemitimus. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. 1998. Internet: http://opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2005/488.

We Love You - Iran & Israel (german subtitles). 2012. Internet: http://www.youtube.com/watch?v=xrhtFKE2V4I&feature=youtube_gdata_player. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Yaron, Gil/Aviv, Tel: Schwule Palästinenser flüchten nach Israel. In: Spiegel Online (2012). Internet: http://www.spiegel.de/politik/ausland/schwule-palaestinenser-fluechten-nach-israel-a-825320.html. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Fußnoten


  1. Schirrmacher, Frank: Eine Erläuterung Was Grass uns sagen will. In: FAZ.NET (2012). Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/eine-erlaeuterung-was-grass-uns-sagen-will-11708120.html. Zuletzt geprüft am: 5.4.2012. ↩︎

  2. Sekundärer Antisemitismus | bpb. 2006. Internet: http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37962/sekundaerer-antisemitimus. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  3. Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. 1998. Internet: http://opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2005/488↩︎

  4. Probst, Julia: Der Holocaust war furchtbar, keine Frage. Aber selbst DAS gibt Israel nicht den Blankoscheck für dem Umgang mit den Palästinenserin im Gaza. In: @EinAugenschmaus. 2012. Internet: https://twitter.com/EinAugenschmaus/status/188995622160969730. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  5. Grossman, David: Israelisch-iranischer Atomkonflikt Bevor unsere Ohren taub werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2012). Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/israelisch-iranischer-atomkonflikt-bevor-unsere-ohren-taub-werden-11681740.html. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  6. Ebd. ↩︎

  7. Yaron, Gil/Aviv, Tel: Schwule Palästinenser flüchten nach Israel. In: Spiegel Online (2012). Internet: http://www.spiegel.de/politik/ausland/schwule-palaestinenser-fluechten-nach-israel-a-825320.html. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  8. We Love You - Iran & Israel (german subtitles). 2012. Internet: http://www.youtube.com/watch?v=xrhtFKE2V4I&feature=youtube_gdata_player. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  9. Pressemitteilung zum Urteil des Bundesschiedsgerichtes in der Causa Bodo Thiesen. In: Piratenpartei Deutschland. 2012. Internet: https://www.piratenpartei.de/2012/04/16/urteil-causa-bodo-thiesen/. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎