Soziokratie in der Piratenpartei

Soziokratische Methoden werden auch in der Piratenpartei angewendet, allerdings spontan und unsystematisch.

Soziokratische Methoden in Arbeitskreisen

Ich selbst habe im NRW-Arbeitskreis Bildung miterlebt, wie das Konsentprinzip angewendet wurde, um das Bildungsprogramm für die Landtagswahl in NRW zu erstellen. Während der Sitzungen und auf der Mailingliste wurde intensiv diskutiert. Der langwierige Meinungsbildungsprozess zog sich über viele Wochen hin. Es gab mehrere Treffen, in denen der Arbeitskreis sich einem gemeinsamen Vorschlag langsam aber sicher annäherte. Bis zum Schluss wurde an der Formulierung gefeilt, um allen Teilnehmern gerecht zu werden. Eine formale Abstimmung gab es im Arbeitskreis nicht, aber gegen den Vorschlag, der zur Landesmitgliederversammlung eingereicht wurde, gab es innerhalb des Arbeitskreises keine schwerwiegenden Einwände mehr. Auf der Landesmitgliederversammlung wurde dann durch Mehrheitsentscheidung beschlossen, den Vorschlag des Arbeitskreises in das Wahlprogramm1 aufzunehmen. Die Einwände derjenigen, die auf der Landesmitgliederversammlung gegen das Programm gestimmt haben, wurden, wie immer bei Mehrheitsentscheidungen, nicht in den Antrag integriert. Da die Vorschläge ein Quorum von Zweidrittel der abgegebenen Stimmen erreichen mussten, reduzierte sich die Zahl der Stimmen, die unter den Tisch fielen, zwar – am Prinzip der Mehrheitsentscheidung änderte dies jedoch nichts.

In vielen anderen Arbeitskreisen, Arbeitsgruppen und in den Crews der Piratenpartei wird das Konsentprinzip sicher ebenfalls angewendet, auch wenn dies spontan und unbewusst geschieht. Das Konsentprinzip ist die natürliche Form der Entscheidungsfindung in kleinen Gruppen. Auf den Landesmitgliederversammlungen und dem Bundesparteitag, den höchsten Entscheidungsgremien der Piratenpartei, werden jedoch stets Mehrheitsentscheidungen gefällt.

Probleme der Delegation, der Legitimation und der Willensbildung

Die Piratenpartei ist basisdemokratisch orientiert. Es gibt kein Delegiertensystem. Alle Beschlüssen werden auf Mitgliederversammlungen gefasst, zu denen alle Mitglieder Zutritt haben. Da die Zahl der Mitglieder stetig wächst, kommen die Parteitage an ihre organisatorische Grenze. Liquid Feedback soll hier eine Entlastung bringen.

Liquid Feedback ist ein elektronisches System, bei dem Online-Abstimmungen durch individuelle und fallweise Delegation von Stimmen organisiert werden. Jedes Parteimitglied kann an Abstimmungen teilnehmen, indem es seine Stimme entweder selbst abgibt oder aber an eine andere Person delegiert. Das System ist alles andere als ausgereift. So kam es beispielsweise dazu, dass einige wenige Personen durch eine Delegationslawine sehr schnell über eine große Anzahl von Stimmen verfügten, sodass in letzter Konsequenz das Abstimmungsverhalten weniger Personen die Abstimmung entschied. Dieses Phänomen ist als Maha-Effekt bekannt geworden. Egal, wie man diesen Bug fixen wird, am Grundprinzip der Mehrheitsentscheidungen rüttelt Liquid Feedback nicht. Es ist ein neuartiges, dem Stand der Technik angemessenes Hilfsmittel zur Organisation von Delegationen und direkten Abstimmungen.

Die Methoden der Willensbildung innerhalb der Piratenpartei sind aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt problematisch. So beziehen die Arbeitskreise und Arbeitsgruppen ihre Legitimation zur Ausarbeitung von Programmvorschlägen lediglich aus dem Prinzip der grundsätzlich offenen Beteiligungsmöglichkeit. Jeder, der will, kann in einem Arbeitskreis mitarbeiten und an der Ausgestaltung des Programms mitwirken. Dieser Grundsatz widerspricht einer praktischen Vorschrift zur Versammlungsführung innerhalb der soziokratischen Kreisorganisation. Wenn ein Kreis eine Position zu besetzen hat, darf sich niemand freiwillig melden. Die Kandidaten für einen Posten müssen von Mitgliedern des Kreises unter Angabe von Gründen zur Wahl vorgeschlagen werden. Damit soll verhindert werden, dass jemand, der zwar  guten Willen, aber nur wenig Kompetenz besitzt, eine Funktion erfüllen soll, mit der er überfordert ist. Das Prinzip der grundsätzlichen Beteiligungsmöglichkeit innerhalb der Piratenpartei öffnet zwar die Gremien für alle, die sich für das Thema interessieren – dies müssen aber nicht diejenigen sein, die besonders viel von der Sache verstehen. Und selbst, wenn sich ausschließlich echte Experten in einem Arbeitskreis zusammenfinden, so fehlt in ihm dann die Stimme des Laien. Und nicht zuletzt besteht immer die Gefahr, dass offene Gremien von einer kleinen Gruppe von Personen gekapert werden, die nur an der Durchsetzung bestimmter politischer Ziele interessiert ist.

Da in der Piratenpartei nur der Parteitag Beschlüsse über das Programm fassen kann, durchlaufen zwar alle Vorschläge einen basisdemokratischen Filter. Dieses Vorgehen ist aber ineffizient. Auf dem Parteitag kann nicht mehr ausgiebig und lösungsorientiert über die Vorschläge diskutiert werden. Dazu fehlt die Zeit und der Kreis ist zu groß. Die Mitglieder können lediglich für oder gegen einen Antrag stimmen, sie können aber keinen Einfluss mehr auf seine Inhalte nehmen. So werden immer wieder Vorschläge, in die Arbeitskreise viel Zeit und Energie investiert haben, vom Parteitag abgelehnt. Eine Vermittlung konkurrierender Vorschläge während des Parteitags ist aus Zeitgründen ebenfalls nicht möglich. Es wird eine Unzahl an Vorschlägen produziert, von denen es lediglich ein Bruchteil ins Parteiprogramm schafft.

Aus basisdemokratischer Sicht wurde auch bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass nicht alle Parteimitglieder die Gelegenheit haben, zweimal im Jahr an einem Bundesparteitag teilzunehmen. Selbst bei über Tausend Teilnehmern kann man nicht darüber hinwegsehen, dass die Parteitage der Piraten ein Legitimationsproblem haben. Anstatt aber über geeignete Formen der Delegation nachzudenken, gibt es Pläne in der Piratenpartei, virtuelle Parteitage an verschiedenen Orten der Republik durchzuführen, um den Mitgliedern ortsnah eine Möglichkeit zur Teilnahme zu geben. Auch wenn virtuelle Parteitage durch Videokonferenzen technisch machbar sind, so muss man doch bemerken, dass hier ein sehr großer Aufwand getrieben wird, um möglichst viele Menschen in Mehrheitsentscheidungen einzubinden und damit das Legitimationsproblem zu verringern.

Dieses Legitimationsproblem ist den Piraten bewusst. Viele ihrer Beschlüsse werden unter dem Vorbehalt beschlossen, bei der Umsetzung die ganze Bevölkerung in den Willensbildungsprozess zu integrieren. So heißt es beispielsweise in dem Beschluss des Bundesparteitags 2011.2 über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. »Wir wissen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Paradigmen des Sozialstaats wesentlich verändern wird. Statt mit klassischer Parteipolitik muss dessen Einführung daher mit einer breiten Beteiligung der Bürger einhergehen.«2 Es soll eine Enquete-Kommission des Bundestages eingerichtet werden, die Modelle ausarbeiten und durchrechnen soll. Anschließend soll in einer Volksabstimmung über Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt werden. Ähnliche Vorbehalte gab es auch im Wahlprogramm der NRW-Piraten.

Mehrheitsentscheidungen können jedoch die Qualität der Beschlüsse nicht gewährleisten. Die Einbindung aller in alle Entscheidungen überfordert den Einzelnen. Niemand ist in der Lage, die Argumente aller zur Entscheidung vorliegenden Anträge genau zu prüfen. Man glaubt entweder den Antragstellern oder man lehnt den Antrag aufgrund unguter Gefühle ab. Auch die Piraten vernichten so Information in ihren Mehrheitsentscheidungen.

Interessant wäre also in diesem Zusammenhang, wie die Enquete-Kommission des Bundestages zusammengesetzt sein soll und nach welchen Prinzipien sie arbeiten und entscheiden soll. Werden sich die Parteien dort wie üblich gegenseitig blockieren und sabotieren, oder werden die Teilnehmer wie unsere verschütteten Politiker im Höhlengleichnis konstruktiv zusammenarbeiten?

Die Piraten entschärfen das Qualitätsproblem von Mehrheitsentscheidungen, indem sie erstens möglichst viele Mitglieder an den Entscheidungen beteiligen und zweitens mit der Zweidrittel-Mehrheit hohe Hürden aufbauen. Teilweise wird die konkrete Ausgestaltung von Lösungsvorschlägen auf die Zukunft verschoben, da gesamtgesellschaftliche Probleme von der gesamten Gesellschaft gelöst werden müssen. Die Mittel zur Integration der gesamten Bevölkerung ist die Volksabstimmung. Wie die gesamte Bevölkerung jedoch bereits bei der Lösungsformulierung eingebunden werden soll, ist unklar. Es gibt Ideen, dies nach dem innerparteilichen Beispiel über Liquid Feedback zu lösen.

Neben der politischen Willensbildung gibt es ein zweites Problem innerhalb der Piratenpartei, für das man eine soziokratische Lösung finden könnte: die innere Organisation.

Probleme der inneren Organisation der Partei

Im Landesverband NRW der Piratenpartei wurde zwei Jahre lang über die innere Gliederung gestritten. Als die Piratenpartei gegründet wurde, gab es lediglich Crews als Untergliederung der Landesverbände. Im Zuge der praktischen Arbeit haben sich aber sehr schnell Kreisverbände gegründet. Ich habe den Streit zwischen Kreisverbänden und den Vertretern der Crew-Philosophie nicht im Einzelnen mitverfolgt, weil sich mir die Problematik grundsätzlich nicht erschlossen hat. Allerdings nahm der Streit in NRW destruktive Züge an. Auf dem letzten Landesparteitag wurde eine neue Satzung beschlossen, die laut Pressemeldung neben Kreisverbänden und Crews auch das ›Piratenbüro‹ und virtuelle ›Kreisverbände‹ zulässt. Dies soll den Piraten vor Ort mehr Spielraum beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen eröffnen.

Laut Satzung gliedert sich der Landesverband in Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände. Hinzu kommen die Crews und die Piratenbüros. Diese Untergliederungen der Partei spielen bei der politischen Willensbildung jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Die politische Arbeit findet vor allem in Arbeitskreisen, Arbeitsgruppen und auf dem Landesparteitag als einzigem beschlussfähigen Organ statt. Die Untergliederungen der Partei haben lediglich Verwaltungsaufgaben. So entstehen parallele Strukturen, die das Geschehen innerhalb der Partei sehr unübersichtlich machen. Das Geschehen in den Orts- und Kreisverbänden ist nicht Teil der politischen Willensbildung. Ihre politische Integration in die Partei ist nur über das einzelne Mitglied gewährleistet. Der Vorteil dieser Trennung von verwaltungstechnischer Gliederung und politischer Willensbildung ist, dass sich der Ortsverein nicht die Mühe machen muss, eine gemeinsame politische Position zu formulieren, da dies ausschließlich in den Arbeitskreisen, Arbeitsgruppen und auf dem Parteitag geschieht. Er muss auch keine Delegierten wählen, was die politische Willensbildung auf Orts- und Kresiverbandsebene anstoßen würde. Im Grunde sind die Orts- und Kreisverbände politisch passiv. Erst wenn es um Fragen der Kommunalpolitik geht, müssen die Untergliederungen der Partei in irgendeiner Weise aktiv werden. Aber ihre politische Desintegration fördert nicht unbedingt den Aufbau personeller und organisatorischer Strukturen vor Ort, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein.

Man muss nicht unbedingt das Ziel verfolgen, aus der Piratenpartei eine hochgradig integrierte Organisation nach soziokratischem Muster zu machen, auch wenn das vermutlich die Schlagkraft und den Einfluss der Partei erheblich stärken würde. Aber es wäre auf jeden Fall lohnenswert, zu überlegen, ob die politische Integration der Untergliederungen nicht mit Hilfe der soziokratischen Kreisorganisationsmethode verbessert werden könnte.

Literatur

Bundesparteitag 2011.2/Antragsportal/PA284 – Piratenwiki. 2011. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag_2011.2/Antragsportal/PA284. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014.

Piratenpartei Landesverband Nordrhein-Westfalen - NRW-Web:Wahlprogramm Landtagswahl NRW 2010 – Piratenwiki. 2010. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_Landtagswahl_NRW_2010. Zuletzt geprüft am: 1.4.2012.

Fußnoten


  1. Piratenpartei Landesverband Nordrhein-Westfalen - NRW-Web:Wahlprogramm Landtagswahl NRW 2010 – Piratenwiki. 2010. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_Landtagswahl_NRW_2010. Zuletzt geprüft am: 1.4.2012. ↩︎

  2. Bundesparteitag 2011.2/Antragsportal/PA284 – Piratenwiki. 2011. Internet: http://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag_2011.2/Antragsportal/PA284. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014. ↩︎