Mehr Soziokratie wagen!

Der Begriff »Soziokratie« geht zurück auf einen Essay von Lester Frank Ward aus dem Jahre 1893, der in seinem Buch »The psychic factors of civilization« erschien.1

Der 1841 geborene Ward gilt als Begründer der amerikanischen Soziologie. Im Gegensatz zu den damals weit verbreiteten sozialdarwinistischen Ideologien und der auch heute noch herrschenden Laissez-faire-Doktrin vertrat er den Standpunkt, dass sich die wirtschaftliche und soziale Lage eines Landes mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden und durch den lenkenden Eingriff des Staates kontinuierlich verbessern ließe. Den Sozialismus lehnte er jedoch als rein theoretisch-spekulatives und damit unwissenschaftliches Konstrukt vehement ab. Er verlangte von einer ökonomischen Theorie wissenschaftliche Beweise in Form von gelungenen Experimenten. Ohne Ward allzu sehr Unrecht zu tun, kann man seinen wirtschaftspolitischen Ansatz zu einem Vorläufer dessen machen, was wir heute gerne unter sozialer Marktwirtschaft verstehen wollen: eine Methode, die Bedürfnisse möglichst aller Menschen zu decken, indem man einerseits das individuelle Streben nach Freiheit, Wohlstand und Glück gewähren lässt, andererseits aber durch steuernde Eingriffe des Staates soziale Rahmenbedingungen schafft.

Demokratie wird zur Plutokratie

In dem Essay »Soziokratie« macht sich Ward Gedanken über die Regierungsform, die dieser wissenschaftlich fundierten sozialen Marktwirtschaft gemäß ist. Er holt dazu weit aus und konstatiert zunächst, dass die Welt durch die Phasen der Autokratie und Aristokratie zur Demokratie gelangt sei und nun im Übergang zur Plutokratie, der Herrschaft des Geldes, begriffen sei. Aus der Rückschau des Jahres 2011 können wir sagen, dass Ward mit dieser Analyse im Jahre 1893 völlig richtig lag. Mittlerweile ist die Herrschaft des Geldes sogar so gefestigt, dass unsere so genannten Volksvertreter beim Amtsantritt ganz ohne Hemmungen offen schwören könnten, ihre Kraft dem Wohle des Geldes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Wir haben alle den Kapitalismus und die ›Anforderungen der Märkte‹ so weit internalisiert, dass wir an einem solchen Schwur kaum noch Anstoß nehmen würden. Wir wählen seit Jahrzehnten Politiker, die zwar etwas anderes schwören, aber genau das tun. Erst die bürgerlichen Protestbewegungen auf der ganzen Welt, die nun unter dem Begriff Occupy-Wallstreet zusammengefasst werden, offenbarten, dass es in der Gesellschaft noch kleine Widerstandsnester gegen die totale Plutokratie gibt.

Lester Frank Ward sah die Hauptaufgabe des Staates darin, die Gesellschaft zu schützen – und zwar nicht nur vor physischer Gewalt, sondern auch vor anderen Gewalten. »Es ist in höchstem Maße unlogisch zu sagen, die Selbstbereicherung durch physische Gewalt sollte verboten, aber die durch mentale Gewalt oder juristische Fiktion sollte erlaubt werden.« Man sollte diesen Gedanken einmal explizit niederschreiben und verinnerlichen: Der Staat hat die Aufgabe, die Gesellschaft vor der Gewalt juristischer Fiktion zu schützen. Die Sprengkraft dieses Gedankens lässt sich wohl kaum überschätzen. Denn es sind die juristische Fiktionen von Patenten und Urheberrechten, durch die sich Firmen ohne große Gegenleistung bereichern können. Es sind juristische Fiktionen, die es Rohstofffirmen ermöglichen, die Bevölkerung ganzer Landstriche zu vertreiben und unwiederbringliche Naturreservate zu zerstören, um zur eigenen Bereicherung Erze, Öl und Gas zu schürfen. Und ohne bestimmte juristische Fiktionen wären Hungerlöhne ebenso wenig durchsetzbar wie Kapitalerträge aus Spekulationsgeschäften. Stehende Heere von Lobbyisten diktieren heute den Parlamentariern die juristischen Fiktionen, die im Interesse der Plutokraten als Gesetze verabschiedet werden.

Mächtiger als die Plutokratie

Gegen die Plutokratie ist jedoch laut Ward ein Kraut gewachsen: »Es gibt genau eine Macht, die größer ist als jene, die heute die Gesellschaft maßgeblich beherrscht. Diese Macht ist die Gesellschaft selbst. Es gibt eine Regierungsform, die stärker ist als Autokratie, Demokratie und selbst Plutokratie, und das ist die Soziokratie.« Ward plädiert dafür, dass die Gemeinschaft ebenso egoistisch handeln soll, wie das Individuum, das jede Möglichkeit nutzt, um sich Vorteile zu verschaffen. »Sie [die Gesellschaft] sollte sich als Individuum begreifen, mit allen Interessen eines Individuum. Sie sollte sich dieser Interessen vollständig bewusst werden und sie mit demselben unbeugsamen Willen verfolgen, mit dem ein Individuum seine Interessen verfolgt.« Die Gesellschaft als Ganzes ist nach Ward stärker als die Macht der Plutokraten, die mit ihrem Geld die Welt regieren, wenn sich die Gesellschaft als Individuum begreift, das seine Interessen durchsetzt. Mit anderen Worten: Er fordert eine Gesellschaft, die ihr Gemeinwesen so organisiert, dass der volkswirtschaftliche und gemeinschaftliche Nutzen für alle am höchsten ist. Eine solche Gesellschaft würde sich in ihren Entscheidungen beispielsweise nie an den Finanzspekulationen der Plutokratie orientieren und auf die Reaktion der Märkte schielen. Sie würde nach Wegen suchen, den Wohlstand aller statt den Profit weniger zu heben. Eine Gesellschaft, die ihre eigenen Interessen hartnäckig verfolgt, würde auch niemals zulassen, dass private Stromkonzerne die Kosten für die Entsorgung ihres Atommülls der Gemeinschaft aufbürden dürfen. Und sie würde auch niemals für die Stromkonzerne das Haftungsrisiko bei einem atomaren GAU übernehmen. Eine Gesellschaft, die sich ihrer Vorteile bewusst ist, würde Leute, die die Gemeinschaftskasse ausplündern, nicht hofieren, sondern wie Diebe ins Gefängnis stecken.

Wenn man der Analyse von Lester Frank Ward folgt, haben es die Gesellschaften jedoch bisher offensichtlich nicht geschafft, sich ihrer eigenen Interessen bewusst zu werden und diese mit unbeugsamem Willen zu verfolgen, da wir im Stadium der Demokratie mit ihrem Parteiengeist und ihren zur Problemlösung ungeeigneten Mehrheitsentscheidungen stecken geblieben sind. Leider zeigt uns Lester Frank Ward nicht, wie eine Soziokratie konkret aussehen soll. Er sagt lediglich, dass Entscheidungen wissenschaftlich begründet sein sollen. Dies würde darauf hinauslaufen, dass entweder Experten großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung erhalten würden, oder sich andererseits die Bürger selbst sehr intensiv mit den Problemen und den Lösungsmöglichkeiten auseinandersetzen müssten. Während ersteres problematisch ist, erscheint letzteres utopisch. Gibt es einen Ausweg?

Literatur

Ward, Lester Frank: The psychic factors of civilization. 1893. Internet: http://archive.org/details/psychicfactorsof00wardrich. Zuletzt geprüft am: 1.9.2014.

Fußnoten


  1. Ward, Lester Frank: The psychic factors of civilization. 1893. Internet: http://archive.org/details/psychicfactorsof00wardrich. Zuletzt geprüft am: 1.9.2014. ↩︎