Die Finanzkrise und das Stockholm-Syndrom

»Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert.«1

Rating-Agenturen, Hedgefonds und andere große Investorengruppen treiben die Politk und die Menschen in aller Welt zurzeit gewinnbringend vor sich her. Nach Jahren massiver neoliberaler Dauer-Propaganda haben sie endlich freies Schussfeld und können ohne jedes eigene Risiko sich aus der Herde ein Opfer herauspicken und abschießen. Der Kapitalismus hat die Welt als Geisel genommen und erpresst Milliarden.

Und was machen die Opfer? Nichts. Nirgends auf der Welt werden Investmentbanker und andere Profiteure des Systems erschossen. Das war in den 70er Jahren noch anders.2 Damals bezahlten Bankchefs ihre Machtposition mit der Angst, von linken Terroristen entführt oder erschossen zu werden. Heute gibt es keine linken Terroristen mehr. Die junge Generation, aus der sich üblicherweise linke Terroristen rekrutieren, ist bereits als Geisel des Systems aufgewachsen und hat es so verinnerlicht, dass Widerstand erst gar nicht erwogen wird. Die Terroristen tragen heute Nadelstreifenanzüge und sitzen in den Vorstandsetagen der Banken, der Hedgefonds und der Rating-Agenturen. Und wir sind ihre Opfer.

Wir alle leiden unter dem Stockholm-Syndrom. Je brutaler und rücksichtsloser die Angriffe und Drohungen der Finanzterroristen werden, umso stärker neigen wir dazu, mit den Tätern zu sympathisieren und mit ihnen zu kooperieren. Ohne unsere Kooperationsbereitschaft wären heute viele Banken pleite.3 Doch anstatt die Chance, sich von einigen Terroristen zu befreien, entschlossen zu nutzen, haben wir kooperiert und ihnen geholfen, uns weiter auszuplündern.

Wie die Geiseln in Stockholm entwickeln wir mehr Angst vor der Polizei als vor den Geiselnehmern. Wir fürchten Reformen mehr als die Zerstörung unserer wirtschaftlichen und sozialen Existenz durch die Finanzterroristen. Und viele von uns bitten sogar um Gnade für die Geiselnehmer und würden sie – wie die Stockholmer Geiseln – im Gefängnis besuchen.

Kleine Zugeständnisse der Terroristen wie zum Beispiel die Verlängerung eines Kredits oder die lächerliche Reduzierung der Überziehungszinsen nehmen wir ebenso dankbar entgehen wie die Geiseln in Stockholm die Erlaubnis auf die Toilette gehen zu dürfen. Da wir den Geiselnehmern schutzlos ausgeliefert sind, reden wir uns ein, mit ihren Zielen zu sympathisieren. Anders kann ich mir die Wahlergebnisse mancher Parteien nicht erklären. Wir bewundern die Spekulanten, weil sie stark und maskulin wirken. Wir richten uns ein, da jedes Aufbegehren gegen die Herrschaft der Geiselnehmer unsere Situation nur verschlimmern kann – denn Hilfe von außen erwarten wir nicht.

Eine Bank zu stürmen, in der Verbrecher Geiseln halten, ist riskant. Die polizeilichen Einsatzkräfte üben solche Einsätze immer wieder. Die Politik hat leider nie eingeübt, wie man internationale Finanzterroristen unschädlich macht, ohne die Geiseln in Gefahr zu bringen. Und genau das macht uns Angst. Die Geiseln in Stockholm fürchteten, dass die Polizei die Bank stürmen und ein Blutbad anrichten würde. Sie hatten kein Vertrauen in ihre Polizei. Ebenso wenig Vertrauen haben wir in die Politik, in der größtenteils inkompetente Karrieristen durch Jahre langes Buckeln sich ein Mandat gesichert haben. Diesen Leuten ist ein erfolgreicher Einsatz gegen Finanzterroristen nicht zuzutrauen.

Und in der Tat besteht wenig Hoffnung, dass unsere Politiker so geschickt vorgehen wie die Polizei in Stockholm. Die schwedische Polizei stürmte nämlich keineswegs schwerbewaffnet in die Bank. Sie bohrte ein Loch in das Dach der Bank und leitete Gas ein.4 Alle Geiseln wurden körperlich unversehrt befreit. Wie sie allerdings mit dem Geiseltrauma fertig wurden, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es ihre Selbstachtung beschädigt hat, sich aus Angst um ihr Leben soweit zu erniedrigen, dass sie mit den Verbrechern sympathisierten.

Ich weiß nur, dass wir unser Trauma nur dann bewältigen können, wenn wir anfangen, nicht mehr zu kooperieren.

Literatur

Europäischer Stabilitätsmechanismus. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Europ%C3%A4ischer_Stabilit%C3%A4tsmechanismus&oldid=133300947. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014.

Geiselnahme am Norrmalmstorg. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geiselnahme_am_Norrmalmstorg&oldid=120240576. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014.

Jürgen Ponto. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%BCrgen_Ponto&oldid=133988030. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014.

Stockholm-Syndrom. In: Wikipedia. 2014. Internet: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Stockholm-Syndrom&oldid=133074864. Zuletzt geprüft am: 1.9.2014.

Fußnoten


  1. Stockholm-Syndrom. In: Wikipedia. 2014. Internet: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Stockholm-Syndrom&oldid=133074864. Zuletzt geprüft am: 1.9.2014. ↩︎

  2. Jürgen Ponto. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%BCrgen_Ponto&oldid=133988030. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014. ↩︎

  3. Europäischer Stabilitätsmechanismus. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Europ%C3%A4ischer_Stabilit%C3%A4tsmechanismus&oldid=133300947. Zuletzt geprüft am: 22.9.2014. ↩︎

  4. Geiselnahme am Norrmalmstorg. In: Wikipedia. 2014. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geiselnahme_am_Norrmalmstorg&oldid=120240576. Zuletzt geprüft am: 18.9.2014. ↩︎