Unwillig zu trauern?

Da passiert in Norwegen Unvorstellbares und in Deutschland erregt man sich in politischen Grabenkämpfen über Vorratsdatenspeicherung, Terrorismusexperten und Sarrazin. Sind wir unwillig zu trauern? Sind wir wirklich so gefühlskalt und verbissen, dass wir die Ermordeten in Norwegen sogleich für unsere politischen Ziele ausnutzen müssen?

Ich spreche hier bewusst von einem ›Wir‹, denn dieser abscheuliche Uhl von der CSU ist nicht der einzige, der nichts Besseres zu tun hat, als sofort sein tagespolitisches Süppchen zu kochen. Auch die zahlreichen Aufrufe, Sarrazin und seine Gesinnungsgenossen zu ächten, haben einen unguten Beigeschmack.

Als wären wir unwillig zu trauern, wenden wir uns von dem furchtbaren Geschehen ab und suchen eifrig nach geistigen Brandstiftern: die einen im Internet, die anderen in rechtspopulistischen Kreisen.

Natürlich war es entlarvend, als alle Medien von einem islamistischen Anschlag sprachen. Doch entlarvend wofür? Anstatt hinzusehen und sich dem Grauen auszusetzen, sprangen die Terrorismusexperten aus ihrer Ecke und ordneten das Geschehen in die nächstbeste Kategorie ein, die ihnen einfiel. Der Zuschauer darf keine Sekunde ratlos zurückbleiben. Und als sich diese erste Kategorie als falsch erwies, griffen sie schnell zur nächstbesten anderen.

Das Grauen von Utöya dient uns bloß als Munition in der politischen Auseinandersetzung. Die einen fordern mehr Überwachung, die anderen weniger Sarrazin und schärfere Waffengesetze. Die üblichen Verdächtigen sitzen bereits alle auf der Anklagebank.

Die Unfähigkeit zu trauern, die das Nachkriegsdeutschland vergiftete, hat sich in eine Unwilligkeit verwandelt. Wer trauert, punktet nicht in der politischen Auseinandersetzung. Dabei würde es uns gut tun, zu trauern. Die Trauer macht nichts ungeschehen, aber sie erlöst uns von dem Gift, das uns zerfrisst. Das Gift hat viele Namen: Hass, Verblendung, Menschenverachtung, Wut, Ohnmacht, Gleichgültigkeit.

Warum wollen wir nicht trauern? Um die Menschen, die getötet wurden. Um das Glück, das zerstört wurde. Wenigstens für eine Minute.