Arabische Revolution lässt Europa alt aussehen

Die arabische Revolution in Tunesien, Ägypten und einigen anderen Ländern im Nahen Osten lässt nicht nur die arabischen Diktatoren zittern, sondern offenbart auch einen erschreckenden Mangel an demokratischer Kultur in Europa.

Dass westliche Regierungen, allen voran die USA, traditionell jeden Diktator unterstützen, wenn er sich nur ansatzweise pro-westlich gebärdet, ist eine seit Jahrzehnten allgemein bekannte Schande. In den Zeiten des kalten Krieges haben die USA und ihre Verbündete Kriegsverbrecher und Völkermörder mit Waffen, Logistik und Beratern unterstützt, gegen die Mubarak ein Waisenknabe ist. Mit Südamerika litt ein ganzer Kontinent jahrzehntelang unter der menschenverachtenden, antisowjetischen Politik der USA. Die Liste der Schandflecken ist lang und reicht von Afrika über den Nahen Osten bis nach Indochina. Als die Sowjetunion unterging, verlor die US-Außenpolitik für einige Jahre ihren Kompass, bis sie ihn am 11. September 2001 endlich wieder fand. Seither darf ein Diktator alles, so lang er echte oder eingebildete Islamisten von der Macht fernhält. Der Islam hat als Feindbild die Stelle des Kommunismus eingenommen. Wenn also Westerwelle Mubarak einen »weisen Mann« genannt und Merkel ihn als einen »hoch willkommenen Mann« begrüßt hat, so folgten sie bloß einer seit Jahrzehnten geübten Staatsräson, nach der der Feind, meines Feindes, mein Freund ist. Ich will damit ihre Verlogenheit nicht beschönigen, sondern bloß klarstellen, dass sie nicht die ersten sind, bei denen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bloße Lippenbekenntnisse bleiben.

Der Ruf der Menschen nach Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in Tunesien und Ägypten beschämt jedoch nicht nur unsere politische Klasse, die traditionell beide Augen zudrückt, wenn ein israelfreundlicher Diktator sein Volk unterdrückt. Sie hat ein viel schlimmeres Versagen offenbar gemacht: das der vierten Gewalt im Lande. Man muss es einmal so ungeschminkt sagen: die Presse hat sich in unserem Lande freiwillig gleichgeschaltet. Wann gab es einmal einen kritischen Bericht über die israelfreundlichen Diktaturen im Nahen Osten, der vor Mitternacht gesendet wurde? Welche deutschsprachige Zeitung hat regelmäßig über die Verbrechen eines Hosni Mubarak oder eines Ben Alis berichtet? Welche Zeitschrift hat über demokratische Bewegungen in diesen Ländern berichtet?

Meine Erinnerung kann trügen, aber zur Zeit des Kalten Krieges gab es eine breite mediale Öffentlichkeit, in der die Verbrechen südamerikanischer Diktaturen diskutiert wurden und Freiheitsbewegungen zu Wort gekommen sind. Heute ist das anders, da wetteifern Boulevardblätter mit öffentlich-rechtlichen Sendern um die Palme der reißerischsten Islamistenhatz. Die Alternative Diktatur oder Fundamentalismus wurde von den deutschen Medien vollkommen verinnerlicht. Kaum ein Journalist recherchierte abseits der vorgezeichneten Bahnen. Man suchte lieber in Pakistan nach Deutschen, die zu Terroristen ausgebildet werden, als in Kairo nach demokratisch gesinnten Oppositionellen. Wenn die Länder des Maghreb überhaupt in unseren Medien auftauchten, dann nur dann, wenn es etwas zu vermelden gab, das unsere Vorurteile bestätigte.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Kritischer Journalismus findet im deutschen Fernsehen kaum noch statt, schon gar nicht, wenn man dafür im Ausland recherchieren müsste. Die öffentlich-rechtlichen Sender halten sich zwar einen teuren Korrespondenten-Zoo für 30-Sekunden-Aufsager in den Hauptnachrichten, aber vor Ort recherchierte Berichte, die nicht in das gängige Klischee passen, sieht man so gut wie nie. Kritischer Journalismus ist out. Randale-Meldungen sind in. Dass es in der Welt da draußen noch etwas anderes zu berichten gibt, haben die Fernsehsender, die Nachrichtenmagazine und die Tageszeitungen vergessen. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass sie Tage gebraucht haben, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was sich in der arabischen Welt gerade tut. Sie haben es einfach nicht erwartet. Da unten gibt es doch bloß zufriedene Untertanen und mordlustige Islamisten, die bei jeder Mohammed-Karikatur wie Tanzteufel auf die Straße springen und Fahnen verbrennen. Privatsender haben die Aufgabe, das Volk zu verdummen, und sie erledigen diesen Job mit Bravour. Von den öffentlich-rechtlichen Sendern, die ich bezahle, und von den Zeitungen, die sich so gerne das Etikett »Qualitätsjournalismus« ans Revers heften, erwarte ich jedoch etwas anderes.

Die deutsche Blogosphäre kann das Vakuum leider nicht füllen, da sie auf Nabelschau spezialisiert ist. Man muss lange suchen, um jemanden zu finden, der in Deutsch aus dem Nahen Osten berichtet und seine Berichterstattung nicht auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern begrenzt. (Ich bin hier für jeden Tipp dankbar.) Doch selbst dann, wenn es Blogs gäbe, die sich schon länger mit den Demokratiebestrebungen in den arabischen Ländern befassen würden – das Versagen der politischen Klasse, der Vierten Gewalt im Staate wäre dadurch nicht weniger bedenklich. Die Neigung der Deutschen, es sich im Provinzalismus bequem zu machen, und die Selbstgleichschaltung der Medien, düngt den Morast, in dem sich solche publizistischen Blüten wie Sarrazin voll entfalten können. Die Folge ist die vollständige Marginalisierung des intellektuellen Diskurses in Deutschland zugunsten dumpfer Vorurteile und arroganter Großsprecherei. Eine Entwicklung, die uns ganz schön alt aussehen lässt.