Von der Netzliteratur zum Gezwitscher: der Modus des Defizitären im Web

Skizzen zu einer Kritik der digitalen Kommunikation

Phase 1: Die Dichtung

Durch den ersten Internet-Literaturwettbewerb der ZEIT im Jahr 1996 entstand im deutschsprachigen Internet erstmals eine vernetzte kulturelle Bewegung, die ein paar Jahre unter dem Begriff ›Netzliteratur‹ firmierte und zu einigen wissenschaftlichen Meriten kam. Die Vernetzung erfolgte vorwiegend über die Mailingliste Netzliteratur, über Internet-Ringe und Websites mit Linksammlungen. Einige wenige der damals entstandenen Projekte sind immer noch aktiv, andere altern in archivierter Form langsam dahin — die meisten sind jedoch aus dem Internet komplett verschwunden.

Der Corpus der Netzliteratur, der von 1996 bis etwa zur Jahrtausendwende entstand, ist heterogen. Interaktive Hypertext-Spielereien und multimediale Internet-Installationen sind ebenso darunter wie kollektive Mitschreibprojekte und öffentliche Tagebücher. Allen Projekten gemein war das Ringen um gesellschaftliche oder literarischen Relevanz, das zumeist mit einer bewussten Abgrenzung zum etablierten Literaturbetrieb einherging. Die Chance, mit Hilfe des neuen Mediums ohne Vermittlung der gewinnorientierten Verlagswirtschaft in einen direkten Kontakt mit dem Leser zu treten, wurde als revolutionär und originäre Leistung des Internets begriffen. Als ästhetische Bewegung grenzten sich die Netzliteraten bewusst von der gleichzeitig entstandenen Homepage-Kultur ab. Letztere zeichnete sich vor allem durch die exhibitionistische Lust ihrer Macher aus, die mal mehr, mal weniger gekonnt und geschmackvoll jedes nur denkbare private Interesse öffentlich ausstellten. Netzliteratur war insofern eine elitäre, subversive Bewegung, die vor allem medienwissenschaftliche Reaktionen hervorrief. Bereits nach wenigen Jahren zerstreuten sich ihre Protagonisten in alle Winde.

Phase 2: Der Journalismus

Ein Teil der damals entstandenen Projekte, vor allem die öffentlichen Tagebücher, kann man als Vorform der nach der Jahrtausendwende massenhaft auftretenden Blogs betrachten. Die schiere Masse der Blogs ließ das emergente Phänomen der Blogosphäre entstehen, worunter eine internet-spezifische Form von Öffentlichkeit zu verstehen ist. Dieser neuartige Kommunikationsraum wurde von den frühen Bloggern noch ganz im Sinne der Netzliteratur als Gegenöffentlichkeit verstanden. In den letzten Jahren aber wurde er mehr und mehr von den klassischen Medien affirmiert. Private und öffentlich-rechtliche Medien beziehen sich immer häufiger auf die Blogosphäre und ergänzen ihr eigenes Kommunikationsangebot um redaktionelle Blogs. Klassische Medien und Blogosphäre konvergieren, und die Blogosphäre verliert so den Charakter einer Gegenöffentlichkeit.

Parteien, Politiker und Wirtschaftsunternehmen konnten die Blogosphäre noch nicht vollständig besetzen und vereinnahmen. Der sozialrevolutionäre Impetus der direkten Kommunikation ist weitgehend intakt geblieben. Bloggen ist jedoch ein Massenphänomen, in dem sich das Relevante mit dem Trivialen zunehmend amalgamisiert. Während die Netzliteratur vor allem in Abgrenzung zu den etablierten Medien versuchte, gesellschaftlich relevant zu werden — und daran scheiterte —, müssen Blogs in der Blogosphäre selbst um Anerkennung und Publizität ringen. Literarische Relevanz, die sich außerhalb des Blog-Rankings verifizieren müsste, wird nicht mehr angestrebt. Das Schlagwort ›Literatur‹ ist daher konsequenterweise auch völlig aus der Blogosphäre verschwunden.

Die politische Vision der Blogosphäre ist der ›Bürgerjournalismus‹. Die basisdemokratischen Möglichkeiten des Internets werden in der Blogosphäre immer noch hochgehalten, wogegen der künstlerische Anspruch fast völlig verschwunden ist. Insofern ist die Blogosphäre ein defizitärer Modus der Netzliteratur, die noch versucht hat, den basisdemokratischen Aspekt des neuen Mediums mit einem künstlerischen Impetus zu verschmelzen. Die Vermassung der Kommunikation in der Blogophäre hat die künstlerischen Potenziale des neuen Mediums jedoch viel zu stark beschnitten. Bloß ein gewisses sprachliches Niveau ist der Blogosphäre immanent geblieben, da der Blog selbst trotz seiner multimedialen Möglichkeiten immer noch ein sprachliches Medium geblieben ist. Blogger schreiben Artikel in einer Länge, die journalistischen Artikeln nahekommt, sodass es zu einer sprachlichen Nivellierung von klassischen Journalisten und Bloggern kommt. Die Blogsphäre oszilliert daher zwischen dem Modus des Defizitären eines Massenphänomens und dem Elitären des individuellen Ausdrucks. Die vollständige Vereinnahmung der Blogosphäre durch die Kommunikationsmanager der globalisierten Wirtschaft wird durch das Widerständige des Elitären und Individuellen verhindert.

Phase 3: Das Gezwitscher

Mit dem Microblogging wurde endlich die technische Lösung für die kulturell defizitäre, basisdemokratische Massenkommunikation im Internet gefunden. Die auf 140 Textzeichen begrenzten Nachrichten der Microblogging-Dienste Twitter oder Identica ermöglichen eine Schwarmkommunikation, in der das Defizitäre der Massenkommunikation nicht mehr als auszubalancierende Bedrohung, sondern als tragender Bestandteil funktioniert. Das Gezwitscher der Digital-Natives ist die Verwirklichung des Ideals der totalen Austauschbarkeit, die inhaltliche Relevanz einer Microblogging-Nachricht liegt nur geringfügig oberhalb der Grenze des Rauschens. Der Informationswert einer Nachricht ergibt sich nicht mehr aus ihrem Inhalt, sondern bloß noch aus ihrem Kontext. Der Inhalt eines Tweets erschöpft sich in vielen Fällen in der Verweisfunktion auf andere Web-Inhalte. Microblogging ist ein kontinuierlicher Strom aus informatorischem Rauschen und Verweisen auf Anderes.

Im Microblogging geht es also nicht mehr um die Vermittlung von Botschaften oder Informationen, sondern bloß noch um die Lenkung von Aufmerksamkeit. Dies ist natürlich kein neues Phänomen. Schon in der Netzliteratur hatten Zugriffzahlen und ihre Steigerung eine wichtige Bedeutung. Aufgrund der Heterogenität der Projekte waren diese jedoch darauf angewiesen, die Aufmerksamkeit durch externe Mechanismen wie Linklisten, eine Erwähnung in populären Medien, ein gute Platzierung in Suchmaschinen oder interne Mechanismen, wie literarische Qualität oder gesellschaftliche Relevanz auf sich zu lenken. In der Blogosphäre geschieht das Aufmerksamkeitsmanagement bereits durch internalisierte Mechanismen wie der Blogroll, dem Backlink und dem Kommentar. Letzterer verselbstständigt sich im Microblogging. Ist im Blog der Kommentar noch ein Anhang zum eigentlichen Artikel, wird er im Tweet zum eigentlichen Inhalt. Es gibt im Twitterversum keine Artikel mehr, sondern bloß noch Kommentare, die Kommentare kommentieren. Das Twitterversum ist ohne Anfang und Ende, es ist inhaltslose, pure Aufmerksamkeitslenkung. Und das ist für Unternehmen hochinteressant.

Die Netzliteratur hat im lediglich im literarischen und wissenschaftlichen Betrieb in geringem Umfang Reaktionen hervorgerufen, Gesellschaft und Wirtschaft haben jedoch keinerlei Notiz von ihr genommen. Die Blogosphäre hat den Journalismus nachhaltig verändert. Als Massenphänomen weckte sie erstmals das Interesse breiter Bevölkerungsgruppen und zahlreicher Unternehmen. Der Microbloging-Dienst Twitter wurde jedoch fast von Anfang an von Unternehmen und prominenten Politikern, allen voran Barack Obama, systematisch vereinnahmt.

Während die Netzliteratur an ihrem eigenen literarischen Anspruch, den ihr ironischerweise der etablierte Literaturbetrieb stets absprach, als Bewegung scheiterte, durchbrach die Blogosphäre die Grenzen zwischen dem institutionalisierten und dem basisdemokratischen Journalismus unter Beibehaltung des journalistischen Ethos. Die Generation Twitter jedoch sieht sich vor allem als Aufmerksamkeits-Manager, als CAOs (Central Attention Officers), denen die Botschaften egal sind. Als solche sind sie ideal in den Verwertungszusammenhang der Wirtschaft integrierbar.

Das Medium selbst muss derweil den Widerstand organisieren. Da man nur das Gezwitscher derjenigen Leute mitbekommt, denen man folgt, wählt jeder Nutzer seinen individuellen Rausch- und Verweisungshintergrund. Das macht eine breite Diskursokkupation durch einzelne Micro-Blogger oder Bots schwierig. Als Verweisungsmaschine funktioniert das Micro-Blogging wie ein großer Resonanzraum, dessen Nachhall hörbar werden lässt, welche Themen auf Interesse stoßen. Verweise auf Inhalte, die auf ein entsprechend hohes Interesse stoßen, können sehr schnell eine Kommunikationslawine auslösen, die so gut wie jeden Teilnehmer erreicht. Ob die zwitschernde Schwarmkommunikation jedoch neben kurzfristigen Schockwellen auch langfristig kritische Prozesse organisieren kann, muss sich erst noch erweisen.