Geld, das sich selbst verpulvert

Seit Jahren rinnt mir das Geld durch die Finger. Bisher dachte ich, es läge an meinen Füßen, sagt doch das Sprichwort, man lebe auf zu großem Fuß. Dabei habe ich eher kleine Füße, sodass ich immer meine Hände verdächtigt habe. Ich vermeide es, Scheine und Münzen überhaupt nur anzufassen, aus Angst, sie könnten sich mir nichts, dir nichts in Luft auflösen. Seit gestern weiß ich, dass ich nicht allein bin. Auch anderen Menschen rinnt das Geld durch die Finger. Die Schlagzeilen waren unübersehbar.

Jetzt hatten wir gerade den Tod der D-Mark und die Euro-Einführung psychisch verkraftet, da nährt die Schlagzeile über zerbröselnde Geldscheine die ewige Angst der deutschen Rentner vor dem Verfall der Währung. Nun weiß ich, was mit dem Fünfzig-Euro-Schein passiert ist, der vorgestern noch in meiner Brieftasche steckte! Er hat sich unter der Einwirkung von Schwefelsäure zersetzt. Oder er wurde, wie Wissenschaftler ermittelt haben, verpulvert und zwar mit einem Sulfatpulver, das sich, sobald man es nervös mit feuchten Fingern anfasst, in Schwefelsäure verwandelt. Und wer wird nicht nervös, wenn er Geld ausgeben soll? Welch ein Aufwand! Ich konnte mein Geld bisher ganz gut ohne Sulfat verpulvern. Doch immerhin weiß ich seit gestern, dass man für verpulverte Geldscheine bei den Banken Ersatz bekommt.

Vielleicht finde ich noch irgendwo ein Zipfelchen des Fünfzig-Euro-Scheins, der sich in meiner Geldbörse verkrümelt hat. Denn wenn nichts übrig geblieben ist, schaue ich in die Röhre. Deshalb kann ich nur jedem den guten Rat geben: Sobald Sie an Ihrem Vermögen die ersten Auflösungserscheinungen bemerken, warten Sie nicht, bis nichts mehr übrig ist, sondern gehen Sie sofort zur Bank und verlangen Sie neues Geld!

Unser Geld hat die Schwindsucht. Da ist es kein Wunder, dass die Mehrheit der Deutschen schon wieder mit der Demokratie unzufrieden ist. Der Glaube an die Demokratie und der Glaube an die Gesundheit des Geldes fußen nämlich beide auf einer Täuschung. Das Geld täuscht uns vor, dass wir die Zeit, die wir benötigen, um es zu verdienen und wieder zu verpulvern, sinnvoll verbracht hätten. Und die Demokratie täuscht uns Mitbestimmungsrechte bei der eigenen Ausplünderung vor. In Wirklichkeit haben wir natürlich keinen Einfluss auf die Höhe der Steuern und der Strompreise. Aber immerhin garantiert die Demokratie, dass alles mit rechten Dingen zugeht, wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Angesichts der mottenzerfressenen Scheine dürften bloß die Anhänger des Freigeldes triumphieren. Die haben schon immer Geld gefordert, das sich mit der Zeit in Nichts auflöst. Bisher brauchten die Reichen vor dem Freigeld keine Angst zu haben, da die Unterschicht und damit die demokratische Mehrheit die Freiwirte immer belächelt hat. Doch wenn immer mehr Geldscheine in Umlauf kommen, die einfach zerfallen, könnte das anders werden.

Vielleicht wäre das auch gut so. Denn wir hätten wesentlich weniger Probleme, wenn sich unser Geld generell verflüchtigen würde. Es gäbe beispielsweise keine Banküberfälle mehr. Wer würde schon gerne mit einem Sack voller Geld flüchten, wenn es aus dem Sack langsam herausrieselt. Man würde der Polizei doch eine unübersehbare Spur aus verpulvertem Geld legen! Steuerhinterziehung käme auch aus der Mode. Gibt es eine schönere Vorstellung für einen Steuerzahler als Vater Staat ein wenig Fliegendreck zu überlassen?

Wer Schulden machte, könnte damit sogar noch Geld verdienen. Denn wenn ich mir heute von jemandem 50 angefressene Euro leihe, wird er sich freuen, wenn ich ihm in einem halben Jahr 45 taufrische und makellose zurückgebe. Vielleicht reichen ja sogar 40.

Ganz Deutschland wäre ein Ort ewiger Freude! Nirgends mehr Neid und Missgunst! Das Geld würde endlich sich selbst und nicht mehr unsere Gesellschaft zersetzen! Ich möchte das Gesicht eines Klaus Esser sehen, wenn er seine Millionenabfindung in Empfang nimmt und die Scheine bereits aussehen, als wären die Motten drin.

Unser Glaube an die Demokratie würde langsam aber sicher zurückkehren. Denn weder Helmut Kohl noch ein anderer CDU-Politiker würden jemals wieder einen Koffer mit Bargeld annehmen. Sie müssten doch fürchten, die Bimbes nicht mehr für den eigenen Machterhalt verpulvern zu können, weil ihnen beim Öffnen des Koffers bloß eine kleine Staubwolke entgegen käme.

Wenn ich nicht genau wüsste, dass hinter den Auflösungserscheinungen der Geldscheine bloß wieder eine Putzfrau steckt, die es mit der Reinigung der Geldautomaten allzu genau nahm und kein Joseph Beuys, dann würde ich sagen, dass hier ein großes Genie am Werke war, das uns allen etwas sagen wollte.

Denn erinnert uns Geld, das zu Staub zerfällt, nicht fortwährend an die eigene Sterblichkeit? Gewinnt es nicht eine kontemplative und transzendente Dimension? Lasst uns doch die wunderbare Botschaft erkennen! Wenn wir sterben und selbst zu Staub zerfallen, werden wir endlich eins mit dem Geld, das uns ein Leben lang durch Finger geronnen ist. – Solingen den 3. November 2006