Die Untoten und die Last der tausend Stelen

Natürliche Personen sterben irgendwann. Hitler ist tot, Goebbels ist tot, ja selbst Leni Riefenstahl, die uneinsichtig und starrköpfig mehr als ein Jahrhundert überlebt hat, war keine ewig umherwandelnde Untote des Nationalsozialismus, sondern ist letztlich wie jede natürliche Person brav gestorben. Mit juristischen Personen ist das schwieriger. Sie sind potenziell unsterblich.

Nehmen wir z. B. die Degesch, die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, die der SS das Gift en gros lieferte, mit dem sie Millionen Juden umbrachte. 1942 und 1943 soll die Degesch 20 Tonnen Zyklon B im Wert von 300.000 Reichsmark allein an das Vernichtungslager Auschwitz geliefert haben. Die Degesch war in der Nazizeit ein Tochterunternehmen der Degussa AG. Das Zyklon B der Degesch war jedoch nicht die einzige Einnahmequelle, mit der sich die Degussa in den Holocaust verstrickte. Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt schied für die Nazis auch das von den Opfern erbeutete Gold, was man heute wohl Geldwäsche nennen würde.

Von den natürlichen Personen, die damals am Judenmord verdienten, lebt heute wohl keiner mehr. Und vermutlich gibt es heute unter den 48.000 Mitarbeitern der Degussa AG weniger rechtslastige Untote als in der nordhessischen CDU. Denn im Gegensatz zu manch natürlicher Person in der CDU übernimmt die juristische Person Degussa Verantwortung für ihre Vergangenheit und bezeichnet nicht gedankenspielend die Juden als Tätervolk, nur um dann behaupten zu können, dies folge der gleichen Logik, wie die Deutschen als eben das zu bezeichnen.

Was aber verbindet die heutige Degussa noch mit den Nazis? Es ist ein Denkmal, das Holocaust-Denkmal von Berlin, das in seiner Monumentalität sehr viel eher die Monstrosität des Holocausts künstlerisch adäquat in Beton nachbildet, als der Trauer der Nachgeborenen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Zum Verhängnis wird diesem Mahnmal nun die Tatsache, dass man zu seinem Bau auf eine ähnlich große und komplexe industrielle Infrastruktur angewiesen ist wie die Nazis, als sie Millionen Menschen zur Ermordung in die Vernichtungslager schickten. Vielleicht ist es deshalb auch kein dummer Zufall, dass quasi der damalige Lieferant von Zykon B heute den weltbesten Anti-Graffiti-Lack herstellt, der den Erbauern des Mahnmals gerade gut genug war, um mit seiner Hilfe zu verhindern, dass der untote Geist der Nazis sich mit antisemitischen Schmierereien auf dem Holocaust-Denkmal vor der gesamten Weltöffentlichkeit zurückmelden kann. Dieser Schutz ist natürlich überflüssig, wenn sich mit dem Anti-Graffiti-Lack sozusagen der Zyklon-B-Hersteller selbst auf den Stelen verewigt. Welcher Neonazi würde sich dann noch die Mühe machen, die Stelen zu beschmieren, wenn er durch bloße Berührung des imprägnierten Betons an der Unsterblichkeit der juristischen Person Teil haben kann, die einst Zyklon B nach Auschwitz lieferte, auch wenn ihn das Engagement eben derselben juristischen Person für das Museum der Diaspora in Tel Aviv von den Stelen vertreiben müsste?

Ob es nun der Schweizer Konkurrent der deutschen Lieferfirma war oder nicht, der die Degussa-Beteiligung an die große Glocke hing, wird man wohl niemals endgültig klären können, jedenfalls musste man irgendwann in der Zeitung lesen, dass der Zyklon-B-Lieferant am Bau des Holocaust-Denkmals beteiligt sei. Und da die Degussa bereits doppelt am Holocaust verdient hat, sollte sie nicht noch ein drittes Mal vom Judenmord profitieren, sodass das Kuratorium der Stiftung ›Denkmal für die ermordeten Juden Europas‹ nach langer Diskussion beschlossen hat, die Betonstelen nicht weiter mit dem von der Degussa hergestellten Anti-Graffiti-Lack auszustatten.

Doch nun kommt es noch schlimmer, denn jetzt hat vielleicht wieder eine Baufirma, die den Zuschlag nicht bekommen hat, der Presse gesteckt, dass ein Teil der Stelen-Fundamente mit einem Beton-Verflüssiger einer weiteren Degussa-Tochter gegossen worden ist. Ein Holocaust-Mahnmal, dessen Fundamente von einer Firma stammen, deren Mutter in den Judenmord verwickelt war? Hoffentlich hat man vor dem ersten Spatenstich wenigstens die reine Gesinnung der Bauarbeiter überprüft. Nicht dass sich da einer als Enkel von Albert Speer entpuppt! Zumal diesem die Monumentalität des Denkmals womöglich gefallen hätte. Und wer passt eigentlich auf, dass sich die Bauarbeiter in der Mittagspause keine antisemitischen Witze erzählen? Lea Rosh? Wolfgang Thierse?

Und es gibt auch schon erste Stimmen, die den Abriss fordern. Raphael Seligmann zum Beispiel ist der Meinung, dass von einem »Häufchen Bußsüchtiger unter Führung der Holocaust-Kassandra Lea Rosh abgesehen« niemand in Berlin dieses Mahnmal wolle, das »mit seinen gigantomanischen Ausmaßen eher dem Nürnberger Reichstagsgelände gleicht als einem Ort der Besinnung«. Es gibt aber noch andere Argumente, die für einen Abriss sprechen. Denn die Stelen, die bereits mit dem Anti-Graffiti-Lack von Degussa beschichtet worden sind, soll man später immer an ihrer unterschiedlichen Farben erkennen können. Ein Mahnmal im Mahnmal! Ich sehe schon wie Neonazis aus ganz Deutschland nach Berlin pilgern, ihre Nase an die Degussa-Stelen drücken und ausrufen: Ich liebe den Geruch von Zyklon B!

Es ist schon ein Kreuz mit dem Gedenken in Deutschland! Da möchte man alles schön koscher machen, und dann wackeln die Fundamente und der Beton weckt ungute Erinnerungen. Aber ist dies nicht die Aufgabe eines Denkmals? Peter Eisenman, der Architekt des Mahnmals, hat sowieso immer betont, das Bauwerk benötige keinen Schutz gegen Graffitis. Die gehörten, wenn sie denn auftauchten, eben zum Mahnmal dazu. Irgendwie scheint Eisenman die ganze Komplexität, mit der man hierzulande mahnen will ohne zu denken, und gedenken will ohne zu trauern, vollkommen durchschaut zu haben.

Vielleicht sollte man das Mahnmal deswegen auch zu Ende bauen mit Degussa und all ihren Töchtern. Es wäre das ideale Scheidemittel, an dem sich der in zahllosen natürlichen Personen immer noch lebendige untote Geist des Antisemitismus trefflich abscheiden ließe. Dann würden wir zwar erkennen, dass es in Deutschland mehr Untote gibt, als wir dachten, aber das wäre dann auch ein guter Grund zur Trauer. – Solingen, 6. November 2003