Lehrer killen: das gehört sich nicht!

Wolfgang Clement hat uns in einem Interview mitgeteilt: »Unsere Kinder und Kindeskinder sollten schon wissen, was sich gehört und was nicht.« Im Angesicht der Bluttat von Erfurt ist dies eine tiefsinnige Einsicht, die wir gerne mit ihm teilen. Es gehört sich wirklich nicht, seine Lehrer zu erschießen.

Doch leider hat Wolfgang Clement nicht durchblicken lassen, wie wir diese Einsicht unseren Kindern und Kindeskindern vermitteln sollen. Wie soll ein Jugendlicher davon überzeugt werden, dass es ungehörig ist, seine Lehrer zu erschießen, wenn Lehrer, die in die Kritik geraten, dir frech ins Gesicht lügen? Wie soll man Kindern und Kindeskindern menschlichen Anstand beibringen, wenn sich die selbstherrlichen ›Bildungspolitiker‹ in der Regierung Thüringens berechtigt fühlen, Schüler, die durch das Abitur fallen, ohne jeden Abschluss in die Arbeitslosigkeit zu entlassen und diese Menschenverachtung auch noch stolz zur Profilierung ihres armseligen Standorts vor sich hertragen? Wie soll man ein Gefühl für Gut und Böse entwickeln, wenn Beamte oder öffentliche Angestellte im Arbeitsamt die Statistiken frisieren? Wenn Polizeibeamte die Kriminalstatistik fälschen, um Politikern ihre Unentbehrlichkeit zu suggerieren? Woher soll man wissen, dass das Erschießen von Menschen sich nicht gehört, wenn Politiker in die Politik gehen, um an fette Bestechungsgelder heranzukommen und im Übrigen im Bundesrat oder im Guidomobil pickliges Schülertheater aufführen?

Ist es nicht auch ungehörig, wenn Wirtschaftsprüfer Testate vergeben, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, und die Firmen am Neuen Markt gemeinsam mit den Banken die Aktionäre betrügen? Entspricht es dem Kanon unserer Gesellschaft, wenn sich Entwicklungshelfer ihren Einsatz für die Armen durch das neue Motto ›Brot gegen Sex‹ versüßen? Gehört es sich, dass katholische Priester, sicher nicht nur in den USA, den Begriff Messdiener neu definieren und sich von ihren Schützlingen unter Talar und Albe befriedigen lassen. Warum soll es dann ungehörig sein, Lehrer zu erschießen? Warum soll man seine Lehrer nicht killen, wenn Politiker aus den USA, unserem Freundesland, darauf bestehen, Minderjährige hinzurichten? Oder wenn in Italien die Mafia, die bekanntlich ein besonders letales Verhältnis zu Waffen hat, durch freie Wahlen an die Macht kommt, und das im übrigen Europa achselzuckend hingenommen wird?

Die Liste der offenen Fragen ließe sich beliebig verlängern. Es reicht nicht hin, einfach ein paar Gebote in ein schlaues Buch zu schreiben, damit Kinder und Kindeskinder wissen, was sich gehört. Das hat sogar Wolfgang Clement erkannt, als er seine Einsichten noch vertiefte und meinte, es passe nicht zusammen, dass Manager ihre Gehälter vervielfachen und gleichzeitig Millionen Menschen in die Obhut der Arbeitslosenämter übereignen. Glückwunsch, Herr Clement, eine erfrischende Erkenntnis, die wir von einem Sozialdemokraten seit Jahren nicht mehr gehört haben!

Die Morde von Erfurt, die uns vor wenigen Tagen noch in ihrer abgründigen Kontingenz monströs und unfassbar erschienen, werden von Tag zu Tag verständlicher. Aber es sind nicht die Ermittler, die uns den Schrecken von Erfurt durch ihre Ergebnisse verständlicher machen, sondern die Reaktionen der Politiker. Ihre reflexartige und unangemessene Reaktion, ihre bodenlose Verlogenheit machen die unbegreifliche Tat auf seltsam bizarre Weise durchsichtiger.

Der Spiegel berichtet, dass die Schulleitung, als sie Robert Steinhäuser vom Gutenberg-Gymnasium verbannte, so ziemlich gegen jeden Paragraphen des Thüringischen Schulgesetzes verstoßen hat.1 Anstatt einen ordentlichen Schulverweis durchzuführen, haben sie ihn mit einer Art ›Aufhebungsvertrag‹ von der Schule gemobbt. Gehört sich das? Ist es verwunderlich, dass sich Kinder und Kindeskinder nicht an Regeln halten, wenn die Lehrer es schon lange nicht mehr tun?

Es wundert wenig, dass das Menschenbild, das zu einem Schulgesetz wie in Thüringen führen konnte, letztlich in eine solche Bluttat mündete. Es ist menschenverachtend und willkürlich, Schüler, die durchs Abitur fallen, ohne Schulabschluss zu lassen. Als wäre der Leistungsdruck in unseren Schulen noch nicht hoch genug, in Thüringen wollte man ihn auf die Spitze treiben. Das Schulgesetz in Thüringen erinnert an die gängigen Quizsendungen, in denen es um Alles oder Nichts geht. Der Mensch ist dabei nebensächlich, humanistische Bildung bloß ein Klotz am Bein der Statistiker. Das Ziel lautet: den führenden Wirtschaftsunternehmen qualifizierten Nachwuchs zu verschaffen, den diese dann bei der nächsten Flaute im Arbeitsamt entsorgen können. In dieses Menschenbild fügt sich der Massenmord von Erfurt wie ein dunkles Puzzleteilchen in ein verlogenes Hochglanzbild. Erfurt ist die Kehrseite der gefälschten Geschäftsberichte.

Je mehr Politiker sich zu Wort melden, umso verständlicher wird das Massaker von Erfurt. Die geschockten Bürger von Erfurt, die immer wieder den stummen Schrei ›Warum?‹ auf Zettel schrieben und mit Blumen am Tatort niederlegten, müssen nur die Verlautbarungen der Politiker aufmerksam lesen, um eine Antwort zu erhalten. Wie auf Knopfdruck fordern sie plötzlich die Verschärfung von Gesetzen. Was sollen Politiker auch anderes fordern, weiß die korrupte Mischpoke doch, dass sie zu einem guten Vorbild kaum noch taugt. Nun haben also Sorgen um Gewaltvideos und Killerspiele am PC mal wieder Saison. Jahrelang war es den Politikern egal, was ihre künftigen Wähler in ihrer Freizeit so trieben, solange die IT-Branche nur brummte und die Schmiergelder flossen. Der Markt wird es schon richten! Auch die Verödung in den Köpfen unserer Kinder und Kindeskinder.

Wäre es nicht ungehörig, möchte man so manchem Politiker gerne den berüchtigten Usenet-Spruch ›Geht bitte ganz schnell sterben!‹ zurufen. Dass dies sich nicht gehört, mussten kürzlich sogar die Niederländer erfahren, auf deren Poldern seit dreihundert Jahren kein politischer Mord mehr geschah, bis ein militanter Tierschützer den Rechtspopulisten und Pelztierzüchterfreund Pim Fortuyn sozusagen in metaphorischer artübergreifender Notwehr im Auftrag der Tiere erschoss. Noch schweigt der Attentäter, aber vielleicht wird er sich die Argumentation der Japaner und Norweger zu Eigen machen, die Wale bloß noch ›zu Forschungszwecken‹ abschlachten. Eine ungehörige Rechtfertigung? In der Tat! Doch wen juckt das schon? Wie soll man heutzutage das Gehörige vom Ungehörigen unterscheiden, wenn man nicht die tiefe Einsicht eines Wolfgang Clement besitzt?

Die monströse Tat von Erfurt wird durch die Reaktionen, die sie heraufbeschwört, immer verständlicher. Die Tat bekommt für uns in ihrer Wirkung ihren Grund. Es ist kein Zufall, dass Robert Steinhäuser Lehrer ermordete. Die Schule ist eine Zwangsanstalt, in der Schüler und Eltern nicht als Kunden, sondern als Schulpflichtschuldige behandelt werden. Vor PISA konnte man sich noch der Illusion hingeben, die Schule sei ein notwendiges Übel. Mittlerweile muss man an ihrer Notwendigkeit ernste Zweifel hegen.

Die DDR ist daran zugrunde gegangen, dass alle Arbeitnehmer Beamte waren. Unkündbar und über den Tod hinaus wohl versorgt. Ist es da ein Wunder, dass unser Schulsystem mehr einem Trabi als einem Mercedes gleicht? Der Lehrer, der regelmäßig zum Dienst erscheint und keine silbernen Löffel klaut, hat doch die Raten für sein Reihenhaus sicher in der Tasche! Kann es überraschen, dass die Kundenorientierung eines Lehrers ebenso ausgeprägt ist, wie die Freundlichkeit einer sozialistischen Verkäuferinnen? Man stelle sich vor, dass das gesamte zukünftige Leben von der Herablassung einer sozialistischen Verkäuferin abhinge! Niemand kommt heute noch auf die Idee, die DDR zu reformieren. Aber unser Schulsystem soll reformfähig sein? Solange Lehrer Beamte sind und Schüler nicht als Kunden begriffen werden, die man nicht einfach durch miese Tricks abschiebt, wird sich an dem Übel nichts ändern. Wenn der Ruck, der durch dieses Land gehen soll, wie in anderen europäischen Ländern, bloß ein Rechtsruck ist, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein weiterer Robert Steinhäuser fragt, warum es ungehörig sein soll, seine Lehrer zu erschießen.

Korrupte Politiker, pädophile Priester, sexhungrige Entwicklungshelfer, betrügerische Wirtschaftsprüfer, kriminelle Manager: Ist Robert Steinhäuser wirklich so ein außergewöhnliches Monster? Ist er nicht vielmehr das bis zur letzten Konsequenz fortgetriebene Ebenbild der Politiker, Priester, Entwicklungshelfer, Wirtschaftsprüfer und Manager? Oder das in ihre selbstsüchtigen Pläne einkalkulierte Restrisiko, das Politiker, Priester, Entwicklungshelfer, Wirtschaftsprüfer und Manager immer schon auf uns, die Allgemeinheit, abgewälzt haben?

Ist es da nicht ein Zeichen leiser Hoffnung, dass Erfurt noch eine Ausnahme ist? Sollten wir nicht, anders als Wolfgang Clement, respektvoll anerkennen, dass die meisten Kinder und Kindeskinder im Gegensatz zu Politikern, Priestern, Entwicklungshelfern, Wirtschaftsprüfern und Managern instinktiv wissen, was sich gehört, und ihre Lehrer trotz des Hasses, den unser Schulsystem in jeder Generation neu erzeugt, zumeist nicht umbringen? Muss man nicht endlich damit aufhören, unseren Kindern und Kindeskindern zynische Vorbilder aus der Retorte vorzusetzen, an die kein Politiker, Priester, Entwicklungshelfer, Wirtschaftsprüfer oder Manager mehr glaubt? Sollten wir stattdessen nicht damit anfangen, die Kinder und Kindeskinder selbst als Vorbilder zu begreifen, denen wir nacheifern sollten? Kinder stellen Fragen. Bis sie in die Schule kommen. Warum? Diese Frage sollte man aufschreiben und mit Trauerblumen vor jedes Schultor legen!

Und weil mir gerade so vieles fragwürdig geworden ist, gleich noch eine letzte Frage hinterher: Haben Stoiber und Schröder ihre Wahlkampftermine bei den hiesigen Schützenvereinen jetzt abgesagt oder bloß ein wenig nach hinten verschoben? – Solingen den 13. Mai 2002

Literatur

Kurz, Felix/Meyer, Cordula/Röbel, Sven/Wassermann, Andreas: Nachhaltig gestört. In: Der Spiegel 20 (2002). Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-22539413.html. Zuletzt geprüft am: 10.9.2014.

Fußnoten


  1. Kurz, Felix/Meyer, Cordula/Röbel, Sven/u. a.: Nachhaltig gestört. In: Der Spiegel 20 (2002). Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-22539413.html. Zuletzt geprüft am: 10.9.2014. ↩︎