Die Mutprobe

Wenn man in die Clique der großen Rowdies aufgenommen werden will, die breitbeinig dastehen und den ganzen Schulhof beherrschen, dann muss man, wer kennt das nicht, eine Mutprobe bestehen. Früher waren das harmlose Streiche, dann waren es lebensgefährliche Surftouren mit der S-Bahn und heute prügelt man den erstbesten Außenseiter krankenhausreif. Wird man dabei erwischt, sollte man tunlichst das Maul halten, denn selbstverständlich kann sich hinterher niemand mehr aus der Clique daran erinnern, eine Mutprobe überhaupt gefordert zu haben.

Ist es da nicht ein großer Freundschaftsdienst, dass der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ehrlicherweise schon vorher verkündet, dass man von den Deutschen keineswegs 3900 Soldaten angefordert habe. Man hätte bloß ganz allgemein über dies und das gesprochen und die Deutschen würden ihre Soldaten freiwillig zur Verfügung stellen.

Ob die Amerikaner nun fordern oder Gerhard Schröder sich andient, das ist, wie wir alle wissen, realitätsferne Haarspalterei. Wer in die Clique will, muss ran. Ohne Mutprobe geht da gar nichts. Und eine bessere Gelegenheit als jetzt, sagt sich Gerhard Schröder, gibt es nicht: Kampf gegen den internationalen Terrorismus besser wird die ›gute Sache‹, auf deren Seite man auch als Deutscher endlich einmal bis an die Zähne bewaffnet stehen will, nimmer. Und da hierzulande niemand einem toten Islamisten eine Träne nachweint, ist auch keine Kritik von pazifistisch-humanistischer Seite zu erwarten.

Zudem sind wir nicht allein. Sogar die Extrawürste bevorzugenden Franzosen schicken Truppen in den Kampf und Italiens Berlusconi träumt schon von cäsarischen Triumphzügen in seinen Fernsehsendern. Wenn also der ganze Schulhof mitmacht, warum sollte man da nicht auch einmal zutreten, um endlich dazugehören zu dürfen. Wen es dann trifft, ist nicht so wichtig.

Wenn man die Rhetorik des Kanzlers verfolgt, der so gern die neue Rolle Deutschlands betont, dann fragt man sich, ob es ihm jemals um die Bekämpfung des Terrorismus ging, oder ob er bloß eine nationale Adoleszenzkrise durchlebt? Die Islamisten in Deutschland laufen jedenfalls alle noch frei herum. Entweder geht von ihnen keine Gefahr aus oder die Polizei ist einfach zu blöd, ihnen etwas Handfestes nachzuweisen. Der einzige Terrorist, der in unserem Lande umgeht und unsere Freiheit und Sicherheit bedroht, ist der Konformist, der an allen Ecken und Enden Denk- und Diskussionsverbote aufstellt.

Mit ihren Flächenbombardements bestätigen die USA gerade sämtliche antiamerikanische Vorurteile. Vielleicht zwei oder drei Dutzend Terroristen haben mit viel Glück einen verheerenden Terroranschlag in den USA begangen und schon nehmen sich die Amerikaner das Recht heraus, ein Volk, das mit diesen Terroristen leben muss, weil es zu schwach ist, sie aus dem Land zu werfen, ziellos zu bombardieren.

Vielleicht sollten uns die Amerikaner mal mitteilen, welcher Blutzoll ihren Rachedurst stillen würde. Auge um Auge? Dann sollte bei 6000 toten Afghanen Schluss sein. Oder 1:10, 1:100? Doch halt, die Amerikaner sind ja grundehrliche Menschen, sie haben uns über ihre Absichten schon längst informiert, sprach Bush doch davon, der Krieg würde bis zur völligen Ausrottung weitergeführt. Mit solchen Worten kann man als Deutscher viel anfangen. Das ist sehr präzise. Mehr kann man nicht verlangen. Allerdings weiß man als Deutscher auch, dass 3900 Soldaten für eine saubere Endlösung kaum ausreichen werden.

Ich bleibe dabei. Der einzige Terrorist, der zurzeit in Deutschland erfolgreich Anschläge durchführt, ist der Konformist, der das Denken verbietet. Natürlich gibt es immer einige, die sich nicht einschüchtern lassen. So hat z. B. der Bundespräsident bereits deutlich gemacht, dass man dann, wenn die Ziele die Mittel zu heiligen beginnen, mit seiner Solidarität vorsichtig umgehen sollte. Langsam aber sicher löst sich der Bann, der das Denken verbot, und die kritischen Stimmen mehren sich, die es als legitim ansehen, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob die rote Linie, hinter der es keine Solidarität mehr geben darf, nicht schon überschritten wurde. Bekämpfen wir also den Terrorismus im eigenen Land! Denken wir!

Und was die uneingeschränkte Solidarität betrifft: man sollte seinen Freunden immer das geben, was sie wirklich benötigen. Und in diesem Fall wäre das der gute Rat, innezuhalten und Souveränität und Stärke zu zeigen statt seine blinde Vergeltungssucht an Unschuldigen auszuleben. Aber haben wir für diese Mutprobe den nötigen Mumm? – Solingen den 7. November 2001