Ohne Asthma geht nichts mehr bei der Tour

80 Prozent aller Spitzensportler sind Asthmatiker

Gesundheit, sagt meine Mutter immer, sei das Wichtigste im Leben. Ob arm, ob reich — Hauptsache man sei gesund. Und bisher war ich auch immer davon überzeugt, dass sie Recht hat, denn was nützen einem Millionen auf dem Konto und eine Schar knackiger Groupies, wenn man auf dem Krankenlager siechend danieder liegt? Doch vor einigen Tagen bekam ich Zweifel, ob eine gute Gesundheit überhaupt noch zeitgemäß ist. Vielleicht ist es in unserer knallharten Leistungs- und Fit-for-Fun-Gesellschaft erfolgversprechender, an mindestens einer chronischen Krankheit zu leiden, denn Krankheiten fördern scheinbar immens die Leistungsfähigkeit.

So hat man am Rande der jüngsten Dopingskandale im Radsport herausgefunden, dass 80 Prozent aller Spitzensportler unter Asthma leiden. Man muss sich diese Dimensionen einmal bildlich vor Augen führen. Bei jeder olympischen Eröffnungsfeier marschieren ganze Lugenheilanstalten nach Nationen geordnet ins Stadion ein. Nicht die Jugend, nein die Lungenkranken der Welt werden gerufen, sich im fairen Wettkampf zu messen. Jeder Olympiasieger könnte, wenn er wollte, auch bei den Paralympics starten. Und jedesmal, wenn auf dem Siegerpodest zur Nationalhymne die Tränen fließen, rinnen etliche aus Dankbarkeit für die Errungenschaften der modernen Pharmazie, die an kurzatmig keuchenden Kranken ein wahres Wunder vollbracht hat.

Diese überraschende Tatsache wird vielen Asthmatikern Mut machen. Sobald man wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft japsend in der Nacht aufwacht und im Dunkeln verzweifelt nach seinem Asthmaspray herumtastet, kann man nun das unangenehme Gefühl, ersticken zu müssen, mit dem tröstlichen Gedanken bekämpfen, dass acht von zehn Olympioniken vor dem Endspurt ebenfalls auf die kortisonhaltigen und Bronchien erweiternden Sprays angewiesen sind. Statt sich in sein Schicksal zu ergeben, überwindet ein Leistungssportler seinen doppelten inneren Schweinehund und kommt dank seiner Sprays mit Terbutalin, Salbutamol und Salmeterol, diesen auch in der Tiermast sehr beliebten anabolen β2-Agonisten, beim Gewinn der Tour de France oder eines Marathonlaufs oder der 400 Meter Lagen kaum noch außer Atem. Da kann kein Gesunder mithalten!

Ohne Asthma geht bei der Tour de France nichts mehr. Wenn Jan Ullrich, Deutschlands bekanntester Asthmatiker an den Start geht, können gesunde Durchschnittsradler nur hechelnd hinterher radeln. Da verwundert es, dass die Pharmaindustrie die Radprofis noch nicht als Werbeträger entdeckt hat. Hat sie hier doch einmal richtig greifbare Erfolge vorzuweisen. Chronisch Kranke, die vor fünfzig Jahren nur durch eine Dauerkur in Davos überlebt hätten, nehmen heute jede Bergetappe mit einem lockeren Lächeln auf den Lippen. Medizin mit angenehmen Nebenwirkungen: schneller, höher, weiter.

Nachdem Jan Ullrich sein Leiden vor der Öffentlichkeit nicht mehr geheim hält, sollten sich all diese hämischen Sportjournalisten, die jedes Jahr über seinen Winterspeck gelästert haben, bei ihm entschuldigen. Immerhin weiß doch jeder, der schon einmal seinen Arzt oder Apotheker gefragt hat, dass Kortison auch Nebenwirkungen hat: es macht dick.

Neben der Pharmabranche und den Medien müssen m. E. auch die Krankenkassen umdenken. Wer sich so sehr um junge, sportliche Mitglieder bemüht, darf sich nicht wundern, wenn die Behandlungskosten für chronische Krankheiten und damit die Beiträge in die Höhe schnellen. Die Krankenkassen sollten Leistungssportler nur noch mit hohen Risikoaufschlägen aufnehmen. Dann könnten die Beiträge für die Gesunden, also die fettleibigen, alkoholabhängigen Durchschnittsraucher, sinken, denn die kriegen einmal im Jahr ihren grippalen Infekt und damit hat es sich dann.

Natürlich müssen auch wir, die Zuschauer, unsere Vorurteile ablegen. Bewunderten wir früher die strahlenden Sieger, weil wir glaubten, Mutter Natur habe sie mit besonderer Kraft und Schnelligkeit ausgestattet, so wissen wir heute: es sind nicht nur Menschen wie du und ich, nein, sie sind viel schlimmer dran. Und siegen trotzdem!

Dieses Wissen muss auch Auswirkungen auf die Präimplantationsdiagnostik und das therapeutische Klonen haben. Denn wenn demnächst alle chronischen Kranken eugenisch entsorgt werden, dürfte Deutschland im Medaillenspiegel ganz weit nach unten rutschen. Und das kann niemand wollen!

Asthma im Sport: da stellen sich auch politische Fragen. Wenn alle erfolgreichen Sportler Asthmatiker sind, welche Erkrankung zeichnet dann erfolgreiche Politiker aus? Amnesie? Alzheimer? Autismus? Juvenile Demenz? Genetisch bedingte Asozialität?

Sollten wir, anstatt unsere Politiker andauernd zu kritisieren, sie nicht viel lieber bewundern und loben, dass sie mit diesen schweren Defekten so weit gekommen sind? – Solingen den 21. Juni 2001