Lob des Fraktionszwangs

Früher, als ich noch jung und naiv war, habe ich den Fraktionszwang immer als ein Relikt aus den Zeiten der NS-Gleichschaltung betrachtet. Stets war ich der Meinung, dass der Fraktionszwang dem hehren Grundsatz widerspräche, der da sagt, dass ein Abgeordneter nur seinem Gewissen verpflichtet sei. Heute weiß ich es natürlich besser. Die Väter der parlamentarischen Geschäftsordnung haben sich etwas dabei gedacht, als sie den Fraktionszwang einführten. Ihre Lebenserfahrung sagte ihnen, dass man niemandem unter das Revers gucken kann, um nachzuprüfen, ob er schon Parteigenosse ist oder nicht. Und sie wussten, dass es zu spät ist, wenn die Nazis ihre Abzeichen erst einmal öffentlich tragen. Diese Erfahrung unserer Altvorderen sollten wir auch heute noch nutzen. Denn was 1933 das Parteiabzeichen der NSDAP war, ist heute der Bimbes-Koffer, dem ich von außen auch nicht ansehen kann, welchen Zwecken er dient.

Wehret den Anfängen, hieß es nach dem Krieg. Wie kann ich aber, so fragten sich die Väter des Fraktionszwangs, rechtzeitig und eindeutig erkennen, wes Geistes Kind ein Abgeordneter ist? Wie soll man das Gewissen eines Abgeordneten, dem er ja allein verpflichtet ist, prüfen? Wie kann ich verhindern, dass gewissenlose Parteisoldaten unsere Parlamente bevölkern? Eine Gewissensprüfung, wie sie dann später für Kriegsdienstverweigerer eingeführt wurde, kam nicht in Frage, da sie sich mit der Würde des Amtes nicht vereinbaren ließ. Da kam der rettende Einfall. Tugend zeigt sich nur in der Bewährung. Ohne Zwang keine Bewährung! Lasst es uns also täglich prüfen, das Gewissen unserer Abgeordneten! Und so wurde der Fraktionszwang geboren.

Der Fraktionszwang ist eine perpetuierte Gewissensprüfung, die dem Wähler ohne großen Aufwand ermöglicht, seinem Abgeordneten unters Revers bzw. in den Koffer zu schauen. Gestern wurden die Abgeordneten von CDU und CSU geprüft, und sie sind, was bei diesen Bimbes-Parteien nicht weiter verwundert, sämtlich durchgefallen. Kein Abgeordneter von CDU/CSU konnte ein Gewissen vorweisen. Ein fatales Ergebnis. Doch es kommt noch schlimmer. Die CSU-Abgeordnete Dagmar Wöhrl weiß sogar noch nicht einmal, um was es sich bei einem »Gewissen« überhaupt handelt. Ja sie offenbart ihre völlige Ahnungslosigkeit auch noch in aller Öffentlichkeit, sagte sie doch zur gestrigen Abstimmung im Bundestag zur Frage, ob der Tierschutz im Grundgesetz verankert werden soll: »Ich habe kein Verständnis, dass meine Fraktionsführung in der Entscheidung keine Gewissensentscheidung sieht.« Offensichtlich ist Frau Wöhrl der Ansicht, dass man sein Gewissen vom Führer der Fraktion zu besonderen Anlässen zugeteilt bekommt. Ansonsten wird nach Kofferlage abgestimmt.

Ja, was will man als Wähler eigentlich noch mehr? Wozu soll ich mich durch Kilometer lange Abhörprotokolle der Stasi wühlen, um herauszufinden, ob Kohl nun bestechlich war oder nicht? Wozu sollen wir ergebnislose Untersuchungsausschüsse finanzieren? Welchen Sinn hat ein teurer, investigativer Journalismus, wenn Politiker vor laufenden Kameras erklären, dass sie weder ein Gewissen haben, noch wissen, was das überhaupt ist? Ist es wirklich so wichtig, exakt zu wissen, auf welchen Wegen die geheimen Spenden der Pharmaindustrie auf die Konten von CDU/CSU gelangt sind? Brauchen wir die geschwätzigen Geständnisse eines Pharma-Schreibers? Nein, wir brauchen sie nicht, dank sei dem Fraktionszwang! Und so verneige ich mich vor der Weisheit unserer Grundgesetz-Väter, die sich wahrscheinlich nach Auschwitz nicht ausmalen konnten, dass Pharma-Unternehmen Tierquälerei einmal in industriellem Maßstab betreiben würden.

Nachdem nun also geklärt ist, dass auf den Bänken von CDU und CSU ein gewissenloses Pack Platz genommen hat, brauchen wir nur noch abzuwarten, bis die Konstellation einmal anders ist und die Gewissen von SPD, FDP, PDS und Grünen geprüft werden. Oder macht es die Fraktionsführung dieser Parteien ihren Abgeordneten zu leicht? Das wäre allerdings kriminell. Denn es würde den Tatbestand der Gewissenlosigkeit verschleiern! Da muss dann wirklich ein Untersuchungsausschuss her! – Solingen 14. April 2000