Null Null

Es hat zwar viel Kraft und Selbstbeherrschung gekostet, aber es ist mir gelungen. Ich habe mich nicht zu einer Millenniums-Sudelei hinreißen lassen, ich habe keine lichten oder apokalyptischen Ausblicke ins heraufdämmernde Jahrtausend gewagt, und ich habe auch keine finale Abrechnung des letzten Jahrtausends dem begierigen Leser vorgelegt, damit dieser nachrechnen kann, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.

Der Rückblicke wahlweise auf das Jahrhundert oder gleich aufs ganze Jahrtausend haben wir nun genug genossen. Wir haben den Kelch der Selbstbespiegelung bis zur Neige ausgekostet. Selbst alle Spielverderber sind kurz vor der Silvesternacht noch schnell zu Wort gekommen. So gibt es Hobbyhistoriker (hauptberufliche Historiker können sich keine schöpferische Phantasie leisten), die behaupten, Karl der Große und die Geschehnisse in den drei Jahrhunderten nach ihm seien eine Erfindung Otto des Großen gewesen, da dieser es für opportun hielt, als Stütze für sein Kaisertum, welches er aus der Hand seines Kegelbruders empfing, den er gerade zum Papst gemacht hatte, einen nordeuropäischen Gewährsmann aufzutreiben. Rund 270 Jahre seien so einfach in unsere Geschichte hineingedichtet worden, so dass wir vor sechs Tagen in Wirklichkeit den Beginn des Jahres 1730 gefeiert haben. Belegt wird diese so genannte Phantomzeit einerseits durch die Tatsache, dass von Karl dem Großen keinerlei Bauten überkommen sind und – was noch schwerer wiegt: In Israel haben Archäologen herausgefunden, dass um das Jahr 750 ein großer Teil der jüdischen Gemeinde im Heiligen Land zerstört worden ist, eine Heldentat, die nach unserer Zeitrechnung die christlichen Kreuzfahrer erst um das Jahr 1098 vollbracht haben wollen.

Naja, wie dem auch sei. Ich konnte einfach keine passenden Worte in meinem ansonsten reichen Fundus finden, mit denen ich dem neuen Jahrtausend guten Gewissens hätte entgegentreten können. So blieb ich also zu Hause und ließ die Neujahrsansprache im Sudelbuch einfach ausfallen. Aber im Internet lässt sich ja bekanntlich manches nachholen und so fällt mir vielleicht im Laufe der nächsten 359 Tage noch eine sudelwürdige Neujahrsansprache ein, die ich dann, Bytes sind flexibel, unter dem magischen Datum 20000101.html ablegen werde.

Bis dahin werde ich das neue Jahr ausgiebig genießen und bei jedem Scheck den ich unterschreibe, das Gefühl haben, bei Null anzufangen; bei Doppel-Null sogar. Und dieses seltene Gefühl teile ich nicht nur mit Otto dem Großen, sondern auch mit der CDU, die in ganz anderer Hinsicht gerne wieder bei Null anfangen würde, wären da nicht die Waffenschieber, die mit neuen Enthüllungen drohten. Aber so ist das mit dem Millenniumswechsel: alles blanke Zahlenspielerei. Wir nehmen alle ungedeckten Schecks und alle prall gefüllten schwarzen Koffer mit ins neue Jahrhundert. Dabei könnte es so schön sein, wenn es so einfach wäre, wie es uns die Werbung vorgaukelt: Null Null und in Partei und PC, ist alles o.k. – Solingen 6. Januar 2000