Ironie des Schicksals

Zum Tode von Ignatz Bubis

Eins hat Ignatz Bubis – Ironie des Schicksals – nicht erreicht: dass sein Grab ungeschändet bleibt. Unmittelbar nach dem Begräbnis beschmierte ein israelischer Künstler, ein Jude, der früher einmal ein paar Kneipen in der Düsseldorfer Altstadt besessen haben soll, das Grab mit schwarzer Farbe und nannte Bubis einen Verbrecher, der Bordelle besessen habe und für die Studentenproteste von 1968 mitverantwortlich sei; eine skurrile, herostratische Tat, die zeigt, welchen Grad der Verwirrung die Beziehungen zwischen deutschen Juden und deutschen Nichtjuden im Kopf eines Menschen anrichten können.

Doch Verwirrung herrscht nicht nur in dem Kopf des 52-jährigen Grabschänders namens Meir Mendelssohn. Der Tod von Ignatz Bubis, die Schändung seines Grabes, vor allem aber sein letzter Wille, in Israel beerdigt zu werden, damit sein Grab nicht wie das Galinskis von Neonazis in die Luft gesprengt würde, und seine letzten an die Öffentlichkeit gerichteten Worte, dass er fast nichts erreicht habe – all das hatte und hat etwas Verstörendes an sich.

Steffis Abschied und Bubis’ Tod

Die Nachricht von seinem Tode platzte mitten hinein in die Nachlese zur Sonnenfinsternis und das alljährliche politische Sommertheater. Es war Freitag, der Dreizehnte. Die ARD sendete nach der Tagesschau ein ARD Extra – zum Rücktritt von Steffi Graf, die ihren Tennisschläger an den Nagel hing. Erst kurz vor Mitternacht nahm die ARD dann eine Sondersendung über Ignatz Bubis ins Programm. Kam sein Tod für die stets so gut informierten Fernsehanstalten wirklich so überraschend? Die Medien brauchten eine Weile, um sich zu fangen, und sendeten dann eilig und eilfertig zusammengeschnittene Sondersendungen oder wiederholten einfach eine von den vielen alten Talkshows, in denen der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland so häufig auftrat und Stellung bezog. Die Kommentatoren und Nachrufer der Tageszeitungen hatten dagegen etwas mehr Zeit; ihre Artikel mussten erst für die Montagsausgabe fertig werden.

Der Kanzler und der Staatsakt

Viel zu schnell waren die jüdischen Begräbnissitten für die Terminplanung des Bundeskanzleramts, denn während Bubis nach jüdischem Brauch rasch beerdigt wurde, weilte Gerhard Schröder noch in Italien und badete in den Wellen des Mittelmeers. Immerhin waren der Bundespräsident und der Innenminister anwesend – der Innenminister und nicht der Außenminister: eine Tatsache, die man wohl betonen muss.

Zu einem Staatsakt konnte sich weder in Bonn noch in Berlin auf die Schnelle jemand durchringen. Wie soll das überhaupt aussehen, wird sich mancher gedacht haben, falls er überhaupt etwas dachte: ein Staatsakt für einen Juden, der sich zeit seines Lebens als Deutscher fühlen wollte, dann aber doch noch die Aliya, die Einwanderung nach Israel im Tode wählte? Eine knifflige Frage für die Protokollchefs. Doch die jüdische Hast beim Begraben ihrer Toten erledigte das Problem ›Staatsakt‹ vorerst von selbst: die Toten soll man bekanntlich ruhen lassen. Und das schlimme Erdbeben in der Türkei schüttelte das Thema Bubis dann vorerst einmal aus den Schlagzeilen heraus.

Die seelischen Wüsten

Fast alle öffentlichen Reaktionen zeigen, wie verunsichert, ja fast verstört, so mancher ist. Man hat den Eindruck, als seien sich viele plötzlich der unaufgeräumten seelischen Wüsten bewusst geworden, die in diesem Land noch immer ein fruchtbares Zusammenleben erschweren. Die meisten Kommentatoren tasteten sich mit größter Vorsicht von Satz zu Satz, ängstlich darum bemüht, Wortkombinationen aus den Stämmen ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ sorgsam abzuwägen.

Der Vorwurf eines Patrioten

Bubis hat es sich und uns nicht leicht gemacht. Immer wieder bestand er darauf, ein Deutscher jüdischen Glaubens zu sein. Doch was noch schwerer wiegt: er war es. Johannes Rau nannte ihn in Tel Aviv sogar einen Patrioten, eine Kohl’sche Floskel, die normalerweise niemand wirklich zur Kenntnis nimmt, nun aber gleich überall hysterisch zitiert wurde – Normalität gibt es eben nicht.

Patriotisch zeigte sich Bubis vor allem im Ausland, wo er Deutschland immer wieder auf eine Weise verteidigte, die sich kein nichtjüdischer, deutscher Politiker zugetraut hätte. Wer hätte es schon gewagt, nachdem der Mob in Rostock ein Asylbewerberheim angezündet hatte und die anwohnenden Biedermänner Beifall klatschten, im Ausland zu behaupten, die Mehrheit der Deutschen – auch in Rostock – sei nicht rechtsradikal?

Und weil Bubis Deutschland so patriotisch im Ausland in Schutz nahm, wiegt sein später Vorwurf, dass es immer noch kein Miteinander von Deutschen und Juden gäbe, um so schwerer. Jens Jessen schrieb dazu in der Berliner Zeitung:

»Das verbreitete Gefühl der Deutschen, alles in allem zu einem angemessenen Umgang mit ihrer mörderischen Vergangenheit gefunden zu haben, wurde durch Bubis’ Abschiedsworte empfindlich gestört.«

Und Bubis sagte einmal verbittert, er sei in Deutschland weder gehasst noch geliebt, sondern nur geduldet. Vor Jahren habe ich mal eine recht zuverlässige Methode benutzt, um herauszufinden, ob mein Gegenüber zu den Duldern gehört. Als Weizsäckers Amtszeit zu Ende ging, habe ich viele Leute gefragt, ob sie sich Bubis als Bundespräsidenten vorstellen könnten. Die Reaktion war fast immer ein gequältes, manchmal auch entgeistertes Lächeln. Nicht wenige sagten: »Keine schlechte Idee, aber dann sollten wir doch lieber einen anderen Ausländer zum Bundespräsidenten machen: einen Türken zum Beispiel. Denn es gibt ja auch viel mehr Türken als Juden in Deutschland.«

Die schmale Brücke

Es waren nicht die Rechtsradikalen, die Bubis resignieren ließen und auch nicht die Tatsache, dass unsere Regierungen dazu neigen, auf dem rechten Auge Sehstörungen zu kultivieren; es war dieses gequälte und entgeisterte Lächeln. Vergangenheitsbewältigung – das war all zu häufig große Zerknirschung und der heilige Schwur ›Nie wieder!‹ verbunden mit der ebenso großen Erleichterung, dass die armen Juden ja nun endlich in Israel eine eigene Heimat gefunden hätten.

Auch Bubis hatte dieses zwiespältige Bewusstsein, zwei Vaterländer zu haben: und das zeigte sich nicht erst in seinem Wunsch, in Israel beerdigt zu werden. Er sagte einmal auf die Frage, ob er um die Juden in Deutschland fürchte, wenn der Rechtsradikalismus stärker würde, dass er um die rund 70.000 jüdischen Deutschen keine Angst habe, die könnten ja jederzeit nach Israel auswandern, er habe Angst um die übrigen 80 Millionen Deutschen, die diese Möglichkeit nicht hätten. Nun fragt man sich, wie viele Millionen Deutsche sich diese Sorge verbitten würden, wenn sie davon wüssten.

Aber nicht nur viele Deutsche meinen, Bubis sei zwar ein lieber Gast, gehöre aber eigentlich nach Israel. Auch in Israel ist Bubis mit seiner Entscheidung, als jüdischer Deutscher in Deutschland zu bleiben, auf Unverständnis gestoßen. Hüben und drüben scheint man klare Verhältnisse zu lieben: hier Deutschland, dort Israel und dazwischen eine schmale Brücke aus Staatsverträgen und Bildungsreisen. Natürlich kann man diese Brücke verbreitern, doch es bleibt immer eine Brücke. Bubis aber wollte etwas anderes. – Solingen 19. August 1999