Akupunktur ist wie Piercing in homöopathischer Dosis

Seit Gründonnerstag weiß ich, was jemand empfindet, der sich an einer den Blicken der Anderen zumeist verdeckten Stelle hat piercen lassen. Es muss ein wirklich aufregendes Gefühl sein, im Bauchnabel, in den Brustwarzen oder an der äußersten Peripherie des männlichen Zeugungswerkzeuges einen Ring im Fleisch zu tragen, der sich, während man unauffällig gekleidet durch die Fußgängerzone geht, im Stoff verfängt, verhakt, verstrickt und damit nicht nur an den besagten Stellen für Aufregung sorgt.

Nun muss der werte Leser aber keine Angst haben, dass ich fortan wie ein Schweizer Käse mit durchlöchertem Körper vor dem Bildschirm sitze, um mein sklavisch Stück Sudelei fertig zu schreiben. Nein, ich bin lediglich seit Gründonnerstag, den ganzen Karfreitag hindurch bis heute, wie ein trockener Hasenrücken, gespickt mit Dauer-Akupunkturnadeln. Diese Nadeln, die an kleinen hautfarbenen Pflastern befestigt sind, sollen mich von einem alten Rückenleiden befreien. Daneben erweitern sie jedoch auch meinen Horizont in Bezug auf die Lust der moderaten Selbstverstümmelung.

Nun gut, ich gebe zu, dass winzige Akupunkturnadeln im Ohr, im Rücken, an den Armen und in den Kniekehlen eher homöopathischen Charakter haben, wenn man sie mit einem goldenen Ring durch die Brustwarze, den Bauchnabel oder die Penisspitze vergleicht. Aber auch homöopathische Dosen sollen bekanntlich auf den Körper eine heilsame Wirkung haben. Bei seelischen Leiden hilft die Homöopathie leider nicht, denn sonst ließen sich die Serben ja durch Silvesterknallkörper zur Vernunft bringen.

Während meines vorösterlichen Erlebnisses, also während ich gespickt mit Akupunkturnadeln einkaufen ging, fühlte ich die aufregende Labsal des Stigmas, die Lust der religiös Entgrenzten, wenn sich in ihren Händen die Wunden Christi öffnen und saurer Wein aus ihnen blutet. In unserer Spezies wurzelt eine tiefe Lust, den Körper mit Narben zu zeichnen, ihn von oben bis unten zu tätowieren, oder sich Ringe, Knochen oder sonstwas in die Nase zu stecken. Das phantasievolle Stigmatisieren unseres eigenen Leibes unterscheidet uns wesentlich von den Affen, unseren nächsten Verwandten, die in Neuseeland demnächst eingeschränkte Menschenrechte erhalten sollen.

Aber ich möchte das Piercing nun nicht religiös überhöhen. Denn schließlich muss man zugeben, dass Jesus sich seine Wunden nicht selbst beigebracht hat, im Gegensatz zu den Eingeborenen im Urwald, so dass die Gepiercten der Großstädte auch weniger unserem Heiland als vielmehr den Wilden im Busch ähneln.

Doch wo wir schon einmal bei österlichen Erlebnissen und der Nachfolge Christi sind: Ich frage mich die ganze Zeit, ob Peter Handke gestern Nacht mit entblößtem Oberkörper und langen wirren Haaren sich selbst rezitierend auf dem Dach des serbischen Innenministeriums stand, und die Marschflugkörper der Nato, die das Gebäude punktgenau trafen und in Schutt und Asche legten, mit entgrenzter Lust empfing?

Wenn dem so wäre, hätte Deutschland nicht nur einen bedeutenden Schriftsteller verloren, nein, wir müssten uns auch alle weiterhin mit Vermutungen behelfen, wenn wir die Frage beantworten wollen: Warum? Warum tut Handke das? Ist es eine monströse PR-Aktion, um die Verkaufszahlen seiner Bücher wieder in die Höhe zu treiben? Oder hat Handke, angesichts der moralischen Zwickmühle, in die wir alle geraten sind, die Flucht in die Unzurechnungsfähigkeit gewählt. Jedenfalls zieht er es vor, das homöopathisch dosierte Leid der Serben wild imaginierend zu beklagen, als sich mit dem unverdünnten Leiden der Bosniaken und Kosovaren den Herzlappen zu piercen.

Vielleicht hätte ihm die Akupunktur geholfen. Meine Rückenschmerzen sind jedenfalls fast verschwunden. – Solingen 4. April 1999