Netzliteratur unterm Weihnachtsbaum

Der Internetwettbewerb Pegasus98 ist vorüber. Und wieder einmal blieb er uns die Antwort auf die Frage ›Was ist Netzliteratur?‹ schuldig. Aber nicht nur dort herrscht Ratlosigkeit, auch in der Mailingliste Netzliteratur dreht sich die Diskussion seit Jahren im Kreise und findet nirgends nicht ein Stückchen Netzliteratur. Seit gestern weiß ich auch, warum.

Wir haben nämlich bisher die Netzliteratur an einer völlig falschen Stelle gesucht, nämlich im Netz. Dort ist sie aber mitnichten, vielmehr wartet sie unterm Weihnachtsbaum auf ihre Entdeckung und zwar in Form einer japanischen Weihnachtskerze aus Plastik.

Bei der Weihnachtskerze handelt es sich um einen fünf Zentimeter großen beleuchtbaren Anstecker mit dem netzigen Namen ›GWK 9091‹. Dieser Anstecker ist wie alle japanischen Plastikerzeugnisse vielseitig verwendbar, man kann sich den GWK 9091 ans Revers heften, ihn auf den Tisch stellen, in den Weihnachtsbaum haken oder als Ohrschmuck benutzen.

Wo aber, höre ich manchen Leser fragen, verbirgt sich hier die Netzliteratur? Ganz einfach, sie steckt in der Gebrauchsanweisung. Und weil die auf Papier gedruckt ist, würde kein Netztheoretiker dort die Netzliteratur vermuten. Die Gebrauchsanweisung ist aber tatsächlich ein Produkt verschiedener Internet-Technologien. Zunächst wurde sie von einem japanischen Nippesproduzenten in Japanisch, einer für uns Mitteleuropäer gesundheitlich nicht unbedenklichen Sprache, formuliert und zwar unter Windows, einem für Computerbenutzer gesundheitlich nicht unbedenklichen Betriebssystemsurrogat. Die unten zitierte Textprobe zeigt dabei klar, dass der an Goethe und Schiller geschulte japanische Konstrukteur von Anfang an den deutschen Markt im Auge hatte. Danach wurde die Gebrauchsanleitung per E-Mail und fehlerhafter PGP-Verschlüsselung an die amerikanische Vertriebsfirma geschickt und dort mit Hilfe eines Web-Translators ins Englische übersetzt. Der Kultursprung von der asiatisch-ganzheitlichen Denkweise hin zum analytischen Denken des businessorientierten Angelsachsen ist im Text leicht nachzuweisen. Um Geld zu sparen, hat die US-Vertriebsfirma die Kerzen in Osteuropa verpacken lassen. Die Übersetzung der Gebrauchsanleitung vom Englischen ins Deutsche übernahm diesmal ein javafähiger Online-Translator. Dabei übersprang die Gebrauchsanleitung die 7-bit Grenze und bekam hier und da ein paar Umlaute verpasst.

Das künstlerische Ergebnis dieser Internet-Tortur wird als netzliterarisches Ur-Poem im nächsten Jahrtausend die Schul-Sites Japans, Amerikas und Deutschlands sowie die Online-Poesiealben ganzer Schülergenerationen füllen. Es wird sich mit Faust, Hamlet und allen japanischen Haikus messen können. Der Text erfüllt alle Forderungen, die von den führenden Internettheoretikern an die Netzliteratur gestellt werden. Er ist im Netz durch Interaktion von Mensch und Maschine entstanden, und er ist auch nur im Netz zu genießen. Denn als Gebrauchsanweisung unterm Weihnachtsbaum ist er völlig unbrauchbar.

Ich bin glücklich, der Menschheit diese literarische Sternstunde als Erster präsentieren zu dürfen: Die Gebrauchsweisung des GWK 9091

»Herzlichst Gluckwünsch zu gemutlicher Weihnachtskerze Kauf«.

Mit sensazionell Modell GWK 9091 Sie bekomen nicht teutonische Gemutlichkeit für trautes Heim nur, auch Erfolg als moderner Mensch bei anderes Geschleckt nach Weihnachtsganz aufgegessen und länger, weil Batterie viel Zeit gut lange.

Zu erreischen Gluckseligkeit unter finstrem Tann, ganz einfach Handbedienung von GWK 9091:

  1. Auspack und freu.
  2. Slippel A kaum abbiegen und verklappen in Gegenstippel B für Illumination von GWK 9091.
  3. Mit Klamer C in Sacco oder Jacke von Lebenspartner einfräsen und lächeln für Erfolg mit GWK 9091.
  4. Für eigens Weihnachtsfeierung GWK 9091 setzen auf Tisch.
  5. Für kaput oder Batterie mehr zu Gemutlichkeit beschweren an: wir, Bismarckstrasse 4. Für neue Batterie alt Batterie zurück für Sauberwelt in deutscher Wald.«

Viel Spass mit GWR 9091! – Solingen 6. Dezember 1998