Tauben und Falken

Deutschland ist gespalten. Nicht in Arm und Reich oder in Ost und West, sondern in Falken und Tauben. Seriöseste Vertreterin der Täubchen ist die ›ZEIT‹. Zwar titelt sie neben einem großen roten Kreuz: ›Zeit für den Wechsel‹. Aber dann verheddert sich Roger de Weck in seinem Leitartikel entweder in seiner eigenen tauben Unschlüssigkeit oder der ranzigen Ausgewogenheit einer Zeitung, die sich für jedes klare Wort zu schade ist. O-Ton de Weck:

»Rot-Grün bringt Deutschland weder Untergang noch Niedergang, während die Große Koalition allemal ein schwerer Gang wird, wie immer sie ausfällt. Rot-Schwarz mit Bundeskanzler Schröder? Oder Schwarz-Rot mit Bundeskanzler Schäuble und Vizekanzler Lafontaine? Letzteres wäre nicht ohne Reiz, Wahlen sind Chancen, auch unverdiente. Zeit für den Wechsel.«

Vertreter der Falken ist ›Die Woche‹, in der ein genialer Hans-Ulrich Jörges – leider eine Woche zu spät – mit den Mythen dieses Wahlkampfs aufräumt. Und ein energischer Manfred Bissinger erst gar nicht an der Frage verzagt, wer das Rennen denn nun macht, sondern gleich zehn Forderungen für eine neue Politik stellt und Roland Berger das Kabinett von 15 Versorgungsinstituten auf 8 Service-Center reduzieren lässt.

Es wird heute eine große Wahlbeteiligung geben. Der Bürger meldet sich zurück. Das Politische, das sechzehn Jahre von Kohl erstickt wurde, lebt wieder auf. Die Falken sehen darin die Chance, zu gestalten. Die dümmlich gurrenden Tauben schmiegen sich ängstlich zusammen und ducken sich weg, so wie es Kohl sechzehn Jahre gemacht hat. Noch sind die Wahllokale offen, das Rennen zwischen den Tauben und den Falken ist noch nicht entschieden.

Dies ist die letzte Sudelei vor der Wahl. Machen Sie Ihr Kreuz an der richtigen Stelle! Dieses Land muss nach sechzehn Jahren politischen Tiefschlafes langsam wieder wach werden.

Nur noch heute… – Solingen 27. September 1998