Der Albtraum

Heute hatte ich einen fürchterlichen Albtraum, ich erwachte schweißgebadet und konnte mich kaum beruhigen: Ich träumte, es sei Sonntag, der 27. September 1998: Wahlsonntag. Mit einem Kribbeln im Bauch wie damals, als ich mich das erste Mal trauen wollte, ein Mädchen anzurufen, gehe ich ins Wahllokal, um meinen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, dass diese unsäglich bleiernen, sechzehn Jahre endlich zu Ende gehen. Der Schulhof ist menschenleer. Wahllokale sind immer in Schulen, um dem Wähler das Gefühl zu geben, seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben. Und mit bösen Vorahnungen betrete ich das Gebäude. Es ist dunkel, und ich irre eine Zeit lang auf den Fluren umher, weil die Hinweisschilder alle in die Irre führen. Doch schließlich finde ich das Wahllokal und gehe hinein.

»Ihre Wahlbenachrichtigung bitte«, sagt der Wahlhelfer. Ich greife in meine Jackentasche, aber sie ist nicht da. Ich habe meine Wahlbenachrichtigung vergessen! Ich sehe auf die Uhr: es ist fünf vor sechs. Ich laufe hinaus, eile nach Hause, um diese verdammte, graue Postkarte zu suchen, die ich immer so gut weg tue, dass ich sie dann nur schwer wieder finde. Endlich! Da ist sie: in der Schublade meines Schreibtisches ganz unten. Ich schaue auf die Uhr: zu spät, es ist 18.00 Uhr. Im Fernsehen wird die erste Prognose bekanntgegeben. Helmut Kohl gewinnt mit einer Stimme Mehrheit, es ist alles aus!

Ich erwachte schweißgebadet in die Laken verkrallt, dann sprang ich auf, lief ins Arbeitszimmer hinüber und riss die Schreibtischschublade auf: Dort lag sie, meine Wahlbenachrichtigung. Dort, wo sie seit sechzehn Jahren, wo sie seit vier verlorenen Wahlen immer liegt.

Ich nahm sie und drückte sie liebevoll an mich. Vier Mädchen habe ich damals vergeblich angerufen. Sie haben gekichert, oder sie haben mich versetzt. Doch die fünfte kam zu dem verabredeten Treffpunkt. Sie hatte lange kastanienbraune Haare, dunkelblaue Augen und war überhaupt das schönste Mädchen auf der ganzen Schule. Wir gingen sieben Monate miteinander, eine kleine rauschhafte Ewigkeit. Den Neid der anderen habe ich damals gar nicht bemerkt, doch heute, bei gelegentlichen Klassentreffen, tut es immer noch gut, wenn die anderen von ihr und mir in diesem ganz besonderen Ton sprechen.

Und die Moral von der Geschicht’: Auch wenn vier dumme Ziegen dir einen Korb gegeben haben, ruf’ die fünfte an! Es lohnt sich!

– Noch 4 Tage… – Solingen 23. September 1998