21 Jahre danach

Gerade bei der Überarbeitung des GenerationenProjekts blätterte ich in einem Geschichtsbuch. Ich fing in den zwanziger Jahren an und ließ die Machtergreifung Hitlers Revue passieren. Von heute aus betrachtet, wirken die Nazis wie lackierte Clowns. Wie konnten die Deutschen diese Truppe aus gescheiterten Existenzen bloß wählen? – Naja, das tat eigentlich nur rund ein Drittel der Wähler 1932. Hindenburg, dieser von Altersschwachsinn oder Altersstarrsinn geschlagene Reaktionär, brachte diese Lachnummern an die Macht.

Ich blätterte weiter: Gleichschaltung, erste Judenpogrome, Kriegsbeginn, der Wahnsinn des Krieges und die Endlösung. Mir kommt es oft so vor, als ob ich die Schilderungen über die Judenvernichtung zum ersten Mal lese, obwohl ich mich mit ihnen schon häufig auseinander gesetzt habe. Ich habe das Gefühl, als ob mein Denken eine gewisse Schutzbarriere gegen das völlige Erfassen dieses Verbrechens aufgebaut hat. Nicht deshalb, weil es ein von Deutschen begangenes Verbrechen ist, sondern weil es den Menschen an sich in Frage stellt. Ich bin dann immer geneigt, die Verbrechen moralisch zu verurteilen, obwohl das ganz falsch ist. Moralisch verurteilen kann man nur Personen, die von dieser Moral erreicht und von einer durch eine bestimmte Moral vereinten Öffentlichkeit gerichtet werden können. Die Nazis fallen aus diesem Rahmen völlig heraus. Sie mussten, wie eine bösartige Geschwulst, mit Stumpf und Stiel ausgemerzt werden, um in ihrem Tun gestoppt zu werden. Der Zweite Weltkrieg musste bis zur völligen Zerstörung Deutschlands fortgeführt werden, vorher war er nicht zu beenden. Doch warum haben die Sieger dann nicht alle Nazis einfach wie lästige Fliegen erschlagen? Aus Rücksicht? Weil der kalte Krieg vor der Tür stand? Nein, weil sie keine Nazis sind. Und in diesem absurden Zirkel steckt der ganze Sprengstoff.

Dadurch, dass die Nazis den Grundkonsens des Menschlichen verlassen hatten, musste man sie mit Methoden bekämpfen, die jenseits dieses Grundkonsenses lagen. Dies galt wenigstens bis zur Kapitulation, danach kehrten die Sieger augenblicklich zum Grundkonsens zurück. Sie machten einigen Nazis den Prozess und ließen viele andere ungeschoren.

Was mir daran Unbehagen bereitet, ist die Vorstellung, dass es Nazis überhaupt gibt, überhaupt gegeben hat. Die Abscheu vor ihren Verbrechen ist so groß, dass ich in den Tätern nur unwertes Leben, eine völlige Entartung alles Menschlichen sehen kann, und genau das macht mir Angst. Nicht, weil ich mich durch dieses Denken auf eine Stufe mit den Nazis begebe, sondern weil es mir einen Grundkonflikt vor Augen führt.

Wenn man die Allgemeinen Menschenrechte als Leitschnur ansieht, dann fallen auch Leute wie die Nazis darunter. Tut man das, scheitert man im Ernstfall dort, wo Chamberlain 1938 und seine EU-Nachfolger in den 90er Jahren scheiterten. Will man nicht dort enden, muss man früher oder später den Nazis die allgemeinen Menschenrechte absprechen und gegen sie Krieg bis zum bitteren Ende führen. Und genau das hat man von 1939 bis 1945 getan.

Die Wehrhaftigkeit einer Demokratie – man verzeihe diesen Ausdruck, mir fällt zurzeit kein besserer ein – zeigt sich also nicht in Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen, sondern in dem Bewusstsein und in dem Willen, Nazis und ähnlichen Typen notfalls mit Gewalt gegenüber zu treten. Und mit Gewalt meine ich nun nicht den langen Arm des Gesetzes, sondern Krieg. Und zwar keinen sauberen, chirurgischen Krieg, sondern einen schmutzigen.

Woran erkennt man nun aber, dass man für die gerechte Sache kämpft. Ist das heute wirklich einfacher als früher und vor allen Dingen ist man heute vor Irrtum besser geschützt? Als übernationaler Standard haben sich zwar die Allgemeinen Menschenrechte seit Jahren etabliert, aber die Glaubensartikel des Christentums wurden im Mittelalter auch von einem großen Konsens getragen, so dass die Inquisition mit Rückendeckung einer großen Zahl von Menschen die Scheiterhaufen auftürmen konnte. Und der Vietnamkrieg zeigt, wie schnell man vom rechten Pfad abkommen kann. Sicher, die Allgemeinen Menschenrechte haben nichts mit dem Wahn der Religion zu tun. Dennoch wirken bei ihrer Verteidigung die gleichen Mechanismen, weil der Mensch durch Vernunft allein nie zu einem Krieg zu bewegen wäre. Allein Religion, Ideologie oder der Glaube ›an die gerechte Sache‹ vermögen das.

Und jetzt komme ich endlich zur Überschrift: Als ich beim Blättern im Geschichtsbuch nach der Nazizeit ins Jahr 1966 vorrückte, stieß ich auf folgende Meldung:

Kardinal Alfredo Ottaviani gibt in Rom die Abschaffung des Index, einer Liste von Büchern, die Katholiken nicht lesen dürfen, bekannt. Zuletzt war der Index 1948 mit 492 Seiten neu aufgelegt worden.

Man glaubt es kaum! Da drucken die Katholiken 1948 eine gigantische Liste verbotener Bücher, drei Jahre nachdem Auschwitz befreit wurde. Und erst 21 Jahre danach sieht der Vatikan seine jahrhundertealte Paranoia ein. Glücklich, wer angesichts solcher Verbrechen, bibliographische Probleme hat. Nun, Katholiken wurden in Auschwitz ja auch bevorzugt zu Kapos gemacht. Aber es kommt noch toller:

In Indien kommt es 1966 zu blutigen Auseinandersetzungen als die Hindus ein Schlachtverbot für Rinder gegen den Widerstand von 50 Millionen Moslems durchsetzen wollen.

Wenn uns bei solchen Meldungen nicht das Grauen anwehen würde, könnte man sich kringeln vor Lachen.

– Noch 17 Tage… – Solingen 10. September 1998