Die letzten Rätsel unserer Welt

Ich liebe intellektuelle Herausforderungen; ein unbändiger Drang, meine grauen Zellen zu trainieren, beherrscht mich. Unerklärliches aufzudecken, verzwickte Rätsel zu lösen und neue Erkenntnisse zu sammeln: das ist mein ganzer Lebensinhalt. Allerdings reizen mich nicht irgendwelche Rätsel und Problemstellungen. Intelligenztests und Rätselhefte finde ich sterbenslangweilig. In kürzester Zeit habe ich diesen Kinderkram erledigt. Schon in der Schule fand ich die üblichen Denksportaufgaben lächerlich, mit denen die Mathematiklehrer unser Motivationstief im ersten und zweiten Halbjahr überbrücken wollten. Allein die wahren kosmologischen Problemstellungen und die ewig ungelösten Rätsel der Menschheit sind es, die mich faszinieren und seit Kindesbeinen fesseln.

Um meiner Leidenschaft nachzugehen, muss ich natürlich viel reisen. Ich bin ständig unterwegs. Ganz Deutschland, halb Europa und den größten Teil der Industriestaaten habe ich bisher schon bereist, um mich täglich an den kniffeligsten Rätseln und verworrensten Problemen neu zu bewähren. Nur Süchtige wissen, welche Glücksmomente ich erlebe, wenn ich als Fremder am Bahnhof einer großen Stadt ankomme, die nächstbeste Unterführung benutze, das Objekt meiner Begierde von weitem erblickend anfange, zu laufen, zu rennen, und endlich vor ihm stehe, vor dem Fahrkartenautomat des regionalen Verkehrsverbundes. O seliger Höhepunkt! Nun triumphiere ich über irreführende Bedienungsanleitungen und chaotische Tarifstrukturen und ziehe nach höchstens einer halben Stunde souverän die richtige Fahrkarte. Und wenn es dann im Kasten rasselt und surrt und unten in der Ausgabe die Fahrkarte erscheint und das Wechselgeld klimpert, dann bin ich so glücklich wie nur je ein Spieler vor einem einarmigen Banditen in Las Vegas, der gerade den Jackpot geknackt hat.

Natürlich wird auch dieses Vergnügen mit der Zeit schal. Vor zwanzig Jahren, als ich mit fünfzehn zum ersten Mal eine Freundin hatte, die außerhalb meines Tarifgebiets wohnte, brauchte ich noch eine ganze Stunde, um die ›Tarifwaben‹ vom Verkehrsverbund Rhein-Ruhr zu durchschauen. Heute ziehe ich mir sogar in Hamburg innerhalb einer halben Stunde die richtige Fahrkarte. Doch Gott sei Dank wird die Tarifstruktur des öffentlichen Nahverkehrs in Deutschland laufend verändert, neue narrensichere Automaten werden installiert und überall in der Welt werden die kinderleicht zu bedienenden Fahrkartenverkäufer durch anspruchsvolle Automaten ersetzt, so dass ich immer wieder vor neuen Rätseln stehe. Bisher habe ich jeden Automaten geknackt. Und sollte ich einmal meinen Meister finden, mache ich es wie der große Alexander, der den gordischen Knoten nicht auflöste, sondern frischauf mit der Axt durchhieb – und fahre schwarz! – Solingen 17. August 1998