Typisch!

Heute Morgen war ich sehr frühzeitig bei der Post, um einen wichtigen Brief abzugeben. Obwohl die Post ihre Pforten gerade erst geöffnet hatte, stand schon eine Menge Leute in der Schalterhalle herum. Und es kam, wie es kommen musste. In der Schlange neben mir drängelte sich eine Frau vor, eine andere Frau beschwerte sich und die Vordränglerin raunzte in gebrochenem Deutsch zurück. Auf dem Gesicht der anderen Frau konnte ich jetzt haargenau ablesen, was sie sich nicht zu sagen traute: »Typisch Ausländer! Sind Gäste hier und führen sich auf, als ob sie hier zu Hause seien. Und dann wundern die sich noch, wenn sie abgeschoben werden.«

Möglicherweise hat sich die Frau dann jedoch in Gedanken auf die Lippe gebissen und die Tatsache in ihre Überlegungen einbezogen, dass es auch eine Menge Deutsche gibt, die sich immer vordrängeln müssen und dass die Ausländerin vielleicht gar keine Ausländerin ist, sondern einen deutschen Pass besitzt.

Doch was nützt ihr das? Ein Pass ist ein Pass, wer aber in gebrochenem Deutsch daher brabbelt, ist und bleibt Ausländer. Wer sich dagegen in perfektem Deutsch vordrängelt, wird nur dann nach seinem Pass gefragt, wenn er Neger ist. Stoiber, der allen Ausländern makelloses Bairisch beibringen will, unterläuft mit seinem Vorschlag also geradezu das Blut- und Bodenstaatsbürgerrecht, das er so vehement verteidigt. Ist Stoiber ein heimlicher Multikulti und betreibt die Durchrassung der Deutschen, wenn die Mestizen dann nur drei oder vier Dialekte, wie zungenfertige Kabarettisten, ordentlich beherrschen, damit sie beim Oktoberfest, dem Kölschen Karneval oder der Kieler Woche nicht auffallen?

Die Ansicht, Ausländer seien Gäste, die sich gefälligst auch so zu benehmen hätten, ist natürlich absurd. Als ich mal, noch zu sozialistischen Zeiten, in einer polnischen Schlange in einem Warschauer Postamt nach Briefmarken anstand, entwickelte ich auch eine geradezu kreative Phantasie, wenn es darum ging, mich irgendwie, möglichst unauffällig, vorzudrängeln. Und wenn man so die Bilder vom Ballermann auf Mallorca sieht, so kann man nur dankbar sein, dass sich die Ausländer bei uns wie normale Menschen aufführen.

Aber man benutzt seine Vorurteile ja auch immer situationsbezogen. Sobald etwas Schockierendes passiert (Jemand drängelt sich vor. Ich bin der Dumme. Warum schlage ich ihn nicht zusammen?), sucht man verzweifelt nach einer Erklärung, um sein verletztes Ehrgefühl zu befriedigen. Und da sind Vorurteile schnell zur Hand. (Typisch! Immer diese Ausländer. Unhöflich und ungehobelt. Ich dagegen bin durch und durch deutsch und ordentlich, drängle mich also nicht vor, auch wenn ich es gerne täte! Na, dem würde ich jetzt gerne die Meinung sagen, aber es ist unter meiner Würde, mich mit Ausländern zu streiten. Beim nächsten Mal wähle ich lieber DVU!) So ist die Ungeheuerlichkeit schnell erklärt und der Ehre im Fluge Genüge getan. Die Welt bricht nicht zusammen, nach ein paar Minuten hat man den Vorfall vergessen und kauft beim freundlichen Türken um die Ecke sein Gemüse. Wenn sich aber ein Deutscher vordrängelt und man nicht schnell genug ein Vorurteil findet (Typisch Mantafahrer oder typisch Düsseldorfer), verfolgt einen der Vorfall den lieben langen Tag: Warum habe ich mir nur diese Frechheit gefallen lassen? Was fällt dem Arschloch eigentlich ein? Dem hätte ich eigentlich die Meinung sagen sollen. Vielleicht sollte ich doch Karate lernen!

Ohne Vorurteile, die unsere Suche nach dem Grund für die Schlechtigkeit der Welt so elegant abkürzen, wären wir von Gram gebeugte, grübelnde Misanthropen. So aber erleiden wir Tag für Tag von unseren Mitmenschen jede nur erdenkliche Nicklichkeit und erleichtern uns in Windeseile durch ein gedachtes oder geraunztes ›Typisch!‹– Solingen 10. August 1998