Der Sonnengott

Heute lag ich seit vielen Wochen das erste Mal wieder einmal in der Sonne. Und als ich mich auf dem Liegestuhl ausstreckte und mich sonnte, fühlte ich mich trotz Stress und unerledigter Arbeit plötzlich rundum zufrieden. Die Strahlen der Sonne waren heiß und kräftig, und ich fragte mich, wie es kommen konnte, dass die Menschen von diesem ursprünglichen Gott abgefallen sind, um ein Pantheon von Skurrilitäten zu verehren.

Man braucht wirklich nicht viel Phantasie, um die Macht der Sonne zu verherrlichen. Sie spendet Wärme, weckt Leben, gibt Licht und Klarheit, sie ist das Gute, das die griechischen Philosophen so eindringlich suchten – und das Böse: sie trocknet aus, verdörrt ganze Landstriche, sie verbrennt und tötet. Und dieses Gute und Böse tut sie zumeist gleichzeitig. Aber vielleicht ist es gerade diese Offensichtlichkeit ihrer Macht, die die Menschen dazu brachte, das Göttliche im Rätselhaften des Obskuren zu suchen.

Mit wenigen Ausnahmen: Ludwig XIV nannte sich z. B. Sonnenkönig, denn König von Gottes düsteren Gnaden genügte ihm nicht. Auch für Astrologen war die Sonne wichtig. Das Zeichen des Löwen wird von der Sonne beherrscht, weshalb die unter dem Löwen Geborenen den Herrschertrieb sozusagen mit der Muttermilch eingeschlürft haben.

Seit ein paar Jahrzehnten wächst die Macht und die Gefolgschaft des Sonnengottes. Und der Gehorsam, den wir ihm entgegenbringen, stellt alles in den Schatten, was die christlichen Kirchen je an Gefolgschaft erzwingen konnten. Und auch die fundamentalistischen Moslems werden von den Sonnenanbetern an Glaubensstärke weit in den Schatten gestellt. Nicht wie der gute Muselmann einmal im Leben nach Mekka, nein: Jahr für Jahr pilgern Millionen Deutsche ohne Ansehen von Stand und Person an die Sonnenstrände dieser Welt, um ihrem höchsten Gott zu opfern, und zwar ihre Haut. Denn Solaris ist ein strenger Gott, der gerade seine ergebensten Anhänger am stärksten prüft, mit Sonnenbrand und Hautkrebs.

Doch damit hört der Solarismus nicht auf. Bundesweit klauben Gläubige ihre letzten Heller zusammen, um sich auf ihrem Dach einen Sonnenaltar zu bauen, auf dass er reinsten Strom erzeuge. Und diese Glaubensgemeinschaft wird sogar noch vom Staat gefördert! Man stelle sich mal vor, für jeden Kirchenbesuch gäbe es eine Prämie vom Staat!

Es ist angesichts dieser heliozentrischen Hysterie nur allzu verständlich, wenn die beiden großen Kirchen in Deutschland diesem Treiben mit Sorge zuschauen. Mussten sie im 16. Jahrhundert zähneknirschend hinnehmen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, müssen sie nun hilflos zuschauen, wie muskulöse Jungen und frisch erblühende Mädchen statt in die Messe in Massen ins Freibad strömen, alles ablegen, was ihre braungebrannte Haut von der zarten Berührung durch den strahlenden Gott trennen könnte und sich hüllenlos und willenlos dem Götzendienst hingeben. Im 16. Jahrhundert konnte die Kirche solches Treiben noch mit nächtlichen Feuern austreiben, heutzutage sind ihnen da jedoch die Hände gebunden. Und es kommt noch schlimmer. Ein neues Schisma ist nicht mehr fern, gibt es doch schon Kirchen, die auf ihren Dächern Sonnenkollektoren installiert haben, mit dem sie staatliche Förderung und atomfreien Strom erhalten wollen. Kein Wunder, dass rechtgläubige Katholiken und Protestanten in seltener Einigkeit mit gemischten Gefühlen die Bundestagswahl erwarten. Steht doch zu befürchten, dass nach einer Regierungsbeteiligung der Grünen die letzten Hemmungen fallen könnten und ein neues, ein solares Zeitalter anbricht.

Diese tiefen philosophischen Gedanken gingen mir durch den Kopf, als mir die Sonne aufs Hirn stach und ich meine Haut dem großen Sonnengott opferte. Bald verzog ich mich in den Schatten und mied den direkten Anblick des Göttlichen.

Und nun ging eben die Sonne unter, blutrot und mit großem Pomp. Die Mädchen ziehen ihre Bikinis wieder an, die Jungen verhüllen ihre schlanken Körper. Noch sind kaum Sterne, die Sonnengötter ferner Galaxien, zu sehen. Was immer in der Nacht geschehen wird, die Sonne bringt es an den Tag. – Solingen 8. August 1998