Preisfrage: Teil 3

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

Wie man die Zukunft von der Vergangenheit befreien soll und ob dies wünschenswert ist, blieb ungeklärt.

Was ist nun aber mit dem zweiten Teil der Preisfrage? Wie können wir uns dieser Frage annähern? Was bedeutet es, wenn Vergangenheit auf Zukunft bezogen ist, wenn Vergangenheit aus der Zukunft heraus interpretiert wird? Dies scheinen Fragestellungen zu sein, die weniger esoterisch sind, als die Frage, ob wir die Zukunft von der Vergangenheit befreien können.

Sie erscheinen mir jedoch im gleichen Atemzuge trivial. Natürlich sind wir alle anfällig für Antagonismen. Beliebt sind Filme wie ›Zurück in die Zukunft‹, weil wir in ihnen den Figuren der Vergangenheit eine Zukunft voraus haben und ›es besser wissen‹ als sie. Der Historiker ist ständig im Zwiespalt, historische Quellen zu interpretieren und dabei sein Wissen so anzuwenden, dass er der Sache gerecht wird. Was immer das auch heißen mag.

Die Geschichte, so wie wir sie heute kennen, ist ein Produkt der Aufklärung. Ein historisches Bewusstsein gab es zwar auch schon in der Renaissance, aber wesentliche Elemente der Geschichtswissenschaften sind im 18. Jahrhundert entwickelt worden. Auch ein Aspekt, um den es mir im Folgenden besonders geht, hat seine Wurzeln in der Aufklärung: der Mythos vom Telos der Geschichte, der im Glauben an eine Vorhersehbarkeit historischer Entwicklungen gipfelte.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Hegelsche Weltbild durchdrungen ist von christlichen Heilsvorstellungen und dass Hölderlin Antike und Christentum verbinden wollte. Die Dichter und Denker der damaligen Zeit, die geprägt wurden von der Aufklärung Kants und anderer, griffen wie Ertrinkende nach den beiden einzigen Orientierungspunkten, die ihnen als Abendländer noch zur Verfügung standen: einem idealisierten Bild der Antike und dem heilsorientierten Denkschemata des Christentums. Dieses rückwärts gerichtete, zutiefst brüchige Weltbild konnte natürlich nicht von langer Dauer sein. Es wurde in der Mitte des letzten Jahrhunderts vom Marxismus verdrängt, der bis in unsere Tage hinein eine mächtige Wirkung entfaltete. Dass auch der Marxismus in letzter Konsequenz nichts anderes war als ein säkularisiertes Christentum, hat dann schließlich zum Scheitern dieses Weltentwurfs beigetragen. Was sind nun die übereinstimmenden Strukturen in Christentum, Idealismus und Marxismus? In allen drei Weltentwürfen wird die Vergangenheit und mit ihr die Gegenwart einer vorhersehbaren Zukunft geopfert. Heilsversprechen determinieren Vergangenheit und Gegenwart. Jeder Aspekt der Vergangenheit muss sich in den prognostizierten Verlauf der Geschichte einfügen. So schrieben etwa die Evangelisten, dass Jesus gekommen sei, um zu erfüllen und zwar das, was frühere Propheten vorhergesagt hatten. Sie re-interpretierten damit das Alte Testament vor dem Hintergrund des Lebens Jesu und der als sicher angesehenen Heilserwartung in der Zukunft. Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart verlor damit ihre Eigenständigkeit, sie diente lediglich der Vorbereitung des Kommenden.

Der Idealismus schreibt diese Geschichte fort. Nachdem durch die Aufklärung sämtliche Glaubensartikel auf den Prüfstand der Kritik geraten waren und zumeist durchfielen, glaubte Hegel, Gott durch den Trick mit dem absoluten Geist retten zu können. Schopenhauer schreibt dazu:

»Will dich (er meint die damaligen Philosophieprofessoren) Verzagtheit anwandeln, so denke immer daran, dass wir in Deutschland sind, wo man gekonnt hat was nirgend anderswo möglich gewesen wäre, nämlich einen geistlosen, unwissenden, Unsinn schmierenden, die Köpfe, durch beispiellos hohlen Wortkram, von Grund aus und auf immer desorganisirenden Philosophaster, ich meine unsern theuren Hegel, als einen großen Geist und tiefen Denker ausschreien: und nicht nur ungestraft und unverhöhnt hat man das gekonnt; sondern wahrhaftig, sie glauben es seit 30 Jahren, bis auf den heutigen Tag! – Haben wir also, trotz Kant und Kritik, mit deiner Beihülfe, nur erst das Absolutum; so sind wir geborgen. – Dann philosophiren wir von oben herab (…) als wäre Philosophie Theologie und suchte nicht Aufklärung über die Welt, sondern über Gott.«

Das Heilsversprechen des Marxismus lag dagegen nicht im Himmelreich, sondern auf der Erde und wurde dadurch nachprüfbar. Als es nach einer angemessenen Zeit nicht eintrat, wandten sich die Menschen von dieser Heilslehre wieder ab. Das Christentum war da schon immer geschickter.

Während der Idealismus sein Terrorregime nur in den philosophischen Hörsälen entfaltete, haben Christentum und Marxismus-Leninismus das Leben ungezählter Menschen zerstört. Nun wäre es aber zu einfach, den Mythos des zukünftigen Heilsversprechens einfach als christlich-kommunistische Irrlehre abzukanzeln. Der zugrundeliegende Mythos, der unser Denken bestimmt, ist ein anthropologisches Phänomen, das weiter zurückreicht.

Es resultiert aus der Fähigkeit des Menschen zum transzendenten Denken. Transzendenz meint in diesem Zusammenhang lediglich ein Denken über das unmittelbare Instinktdenken der Tiere hinaus. Man könnte es auch die Fähigkeit zum planvollen Handeln nennen, doch damit wird man dem zutiefst Irrationalen in diesem Denken nicht gerecht.

In der Geschichte der Menschheit überwiegt nämlich nicht das planvolle Kalkül, sondern irrationales transzendentes Denken. Als Beispiel sei nur das ›Opfer‹ des Soldaten genannt, der für das Vaterland, für seinen Glauben, für seinen König fällt. Zwar haben häufig die Herrschenden ihre Untertanen zum Kampf gezwungen, doch waren immer diejenigen Gruppen besonders erfolgreich, die das Opfer verherrlichten und damit Kampfmaschinen produzierten, die keine Rücksicht nahmen – auf sich selbst am wenigsten. Warum dieser selbstmörderische Zug im Menschen so erfolgreich war, ist eine interessante Fragestellung, die es wert wäre, einmal als Preisfrage abgehandelt zu werden.

Es scheint jedenfalls ein äußerst erfolgreiches Verhalten zu sein, die Vergangenheit und die Gegenwart einer heilsbringenden Zukunft zu opfern. – Solingen 14. Juli 1998