Die Preisfrage: Teil 2

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

Was passiert mit mir, wenn ich meine Zukunft von meiner Vergangenheit befreie? Wenn ich meine Zukunft von der Vergangenheit meines Volkes befreie? Kann ich nur so neue Wege einschlagen? Oder bin ich genau dann dazu verurteilt, alte Fehler zu wiederholen?

Und was meint Befreiung in diesem Zusammenhang? In der physischen Welt sind Vergangenheit und Zukunft durch das eherne Band von Ursache und Wirkung zusammengeschweißt. Alles, was da ist, hat seine Ursache in einem Dasein der Vergangenheit, jeder Zustand unserer Welt resultiert aus einem vorhergehenden Zustand. Dies gilt auch bei komplexen Ursachenzusammenhängen, für die chaotischen Ereignisketten, denn auch hier basiert jeder Zustand eines Systems auf einem früheren.

Im Bereich der Psyche, des Bewusstseins, des Geistes liegen die Dinge anders. Es erscheint uns so, als ob bestimmte Bewusstseinszustände auf keinen äußeren oder inneren Ursachen basieren. Wir haben z. B., so sagen uns die Philosophen, einen freien Willen, können uns also entscheiden.

Die Neurophysiologie hat in den letzten Jahren erstaunliche Entdeckungen gemacht. So erkannte man, dass wir handeln, bevor wir uns entscheiden, zu handeln. Die Bedingungen für eine Wahlentscheidung treten oft nicht ins Bewusstsein. Die Willensentscheidung wird zwar bewusst erlebt, ihr Vollzug in der Wahl bleibt jedoch für das sich frei entscheidende Bewusstsein undurchsichtig. Wie sagte Schopenhauer schon sehr richtig: »Der Mensch kann zwar tun, was er will, er kann aber nicht wollen, was er will.«

Wenn wir ein Glas Wasser trinken wollen, veranlasst unser Gehirn unsere Hand, das Wasserglas zu ergreifen und an den Mund zu führen. Der Willensakt, die Entscheidung, mit der Hand ein Glas Wasser zu ergreifen, tritt uns aber erst rund eine Sekunde später ins Bewusstsein. Die Entscheidung ist also bereits gefallen, wenn wir glauben, uns gerade eben zu entscheiden.

Das Problem der Willensfreiheit liegt in der Tatsache des Bestehens zweier verschiedener neurologischer Zusammenhangsreihen: der subjektiv-motorischen (unser Wille veranlasst die Ergreifung des Glases) und der objektiv-kausalen (unser Hirn veranlasst die Ergreifung), zwischen denen kein unmittelbarer Übergang, keine Identität und Parallelität besteht. Sie können nur zeitlich alternativ ins Bewusstsein treten, und das verführt uns zur Annahme einer wechselweisen Einwirkung, wobei das empfundene Motiv in der Vorstellung als Ursache interpretiert wird; z. B. einer Bewegung der Hand auf den Willensentschluss hin.

Der freie Wille: nichts anderes als eine Suggestion unserer höheren Hirnfunktionen? Beim Ergreifen eines Glas Wasser nehmen wir das vielleicht noch hin. Was aber ist mit Entscheidungen, die wir glauben, von langer Hand vorzubereiten? Fällt auch da letztlich unsere Entscheidung ohne unser Zutun? Sind die langwierigen Überlegungen, das Abwägen von Alternativen, das vorausschauende Denken letztlich nur dazu da, unser Hirn in die richtige, unbewusste Stimmung zu versetzen, damit es dann unbewusst die richtige Entscheidung trifft und uns vorgaukelt, diese bewusst getroffen zu haben?

Und welche Rolle spielt dabei die Vergangenheit? Lernt unser Gehirn, Entscheidungen zu treffen? Neigt es dazu, einmal getroffene Entscheidungen bei nächster Gelegenheit zu wiederholen? Werden zukünftige Entscheidungen durch vergangene vorprogrammiert? Kann nur durch ein solches ›Training‹ unser Hirn überhaupt effizient funktionieren und Entscheidungen nach gelernten Parametern unbewusst und schnell treffen und uns darüber hinaus noch einen ›freien Willen‹ suggerieren? Ist das dann auch der Sinn von Traditionen? Sind sie dazu da, uns auch im bewussten Leben, Entscheidungen abzunehmen, weil die neuronale Simulation von ›freien‹ Entscheidungsprozessen zu viel Energie verbraucht? Dann wären Traditionen eingefahrene, trainierte Nervenbahnen, die Entscheidungsprozesse bestimmen und das Ausprobieren von gefährlichen oder zeitraubenden Alternativen ausschließen.

Wenn aber die Vergangenheit mein Bewusstsein in diesem Ausmaß programmiert, wie kann ich dann meine zukünftigen Entscheidungen von den vergangenen befreien? Und das muss ja laufend geschehen. Denn sonst gäbe es ja keinen Fortschritt. – Solingen 8. Juli 1998